Tatort:
Borowski und das Haupt der Medusa
SONNTAG, 16. MÄRZ | 20.15 UHR | DAS ERSTE
DANACH IN DER ARD MEDIATHEK
INHALT
Nur noch wenige Tage, dann beginnt ihre gemeinsame Reise; Eleonore Frost hat noch so viel vor, als ihr Sohn Robert sie erwürgt, um sich von seinem jahrelangen Martyrium zu befreien.
Nur noch wenige Tage, dann beginnt Borowskis Ruhestand, dabei hatte er noch so viel vor … Um einen neuen Reisepass zu beantragen, besucht Borowski das Bürgeramt. Als der Kommissar am Nebentisch des abwesenden Sachbearbeiters Frost das Foto eines düsteren Hauses sieht, kriecht eine unheilvolle Erinnerung in ihm hoch: Bereits als Junge ist Borowski auf dem Schulweg daran vorbeigelaufen und hat sich gegruselt. In dem Bürgeramt häufen sich rätselhafte Sterbefälle und Borowski beschließt, dem unheimlichen Haus einen Besuch abzustatten. Die Nachbarin gibt an, Mutter und Sohn seien vereist, doch der Instinkt von Borowski ist hellwach und er wittert sofort frische Lebenszeichen. Ist der Mörder noch im Haus? Die Polizeistreife vor der Tür, von der Nachbarin wegen des vermeintlichen Einbrechers gerufen, rettet Borowskis das Leben.
Borowski schafft es, Mila Sahin zu überzeugen, dass an diesem dunklen Ort ein Fall auf sie wartet, der bereits drei Menschen das Leben gekostet hat. Derweil zieht sich Robert Frost in sein neues Versteck zurück. Er hackt sich in den Polizeirechner ein, um jeden Schritt von Borowski vorauszusehen.
Während die beiden Kommissare aus Kiel in den Sog eines Gothik Noir Krimis abtauchen, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Denn bis zu seiner Pensionierung bleiben Borowski nur noch vier Tage Zeit …
FAREWELL BOROWSKI!
Über 22 Jahre lang hat Axel Milberg den „Tatort“-Kommissar Klaus Borowski verkörpert – eine einmalige Figur. Er hat TV-Geschichte geschrieben! Mit seinem unverwechselbaren Spiel hat er den eigenwilligen, norddeutsch geprägten Einzelgänger Borowski geschaffen, der für Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer eine Identifikationsfigur wurde. Sein ruhiges, lakonisches Wesen und seine genialen Momente machten ihn zu einem Symbol für Eigensinn und Verlässlichkeit, auch in stürmischen Zeiten.
Mit 44 Borowski-Fällen hat Axel Milberg nicht nur spannende Kriminalgeschichten erzählt, sondern auch ein vielschichtiges Bild Schleswig-Holsteins gezeichnet: Die Themen reichen von der Meeresforschung bis hin zu der dänischen Minderheit. In den Kriminalfällen ging es um brisante Themen wie Kinderarmut in Kiel, Drogensucht durch Crystal Meth oder die Risiken des Dark Nets. Dabei hat Axel Milberg den Norden über die Landesgrenzen hinaus ins Bewusstsein gerückt und sogar den schwedischen Autor Henning Mankell für „Tatort“-Drehbücher begeistert.
Axel Milberg hat immer wieder betont, wie sehr ihm seine norddeutsche Heimat am Herzen liegt. Seine Nähe zu den Menschen und sein aufrichtiger Austausch mit „seinen“ Schleswig-Holsteinern sind ebenso Teil seines Erfolges wie sein außergewöhnliches schauspielerisches Talent.
Im Namen des NDR danke ich Axel Milberg für diese 44 wunderbaren Filme, die unser Publikum begeistert und berührt haben. Wir werden ihn – und seinen Borowski – vermissen.
Mit herzlichem Dank und den besten Wünschen,
Frank Beckmann (NDR Programmdirektor)
DER HEIMLICHE KÖNIG VON KIEL
Hauptkommissar Klaus Borowski war, so sagen manche, der heimliche König von Kiel - kriminalistisch gesehen. Ein eigensinniger, bisweilen versponnener Einzelgänger, genialisch, emphatisch und oft auch ein wenig autistisch. 44 Fälle hat der Columbo von der Förde in den vergangenen 22 Jahren auf den Spuren des Bösen gelöst und ist dabei faszinierenden Täterinnen und Tätern so nahe gekommen wie kaum ein anderer „Tatort“-Ermittler. Ohne den lakonischen Humor und seinen vielleicht einzigen Freund und Vorgesetzten Roland Schladitz hätte man das manchmal nur schwer aushalten können. Denn immer wieder tauchte in Borowski Universum auch das scheinbar schlechthin Böse auf und kam ihm seltsam nahe. Killer wie Kai Korthals, Todesengel wie Sabrina Dobisch, Charlotte Delius und der Frauenhasser Robert Frost im nunmehr letzten Fall „Borowski und das Haupt der Medusa“ forderten ihn und seine Kollegen und Kolleginnen Alim Zainalow, Sarah Brandt und Mila Sahin im Land zwischen den Meeren über die Maßen. An der Seite von Charlotte Lindholm war Klaus Borowski auch im 1000. Tatort „Taxi nach Leipzig“ zu sehen. Vor allen andern aber war die Psychologin Frieda Jung seine große Liebe, sie spielte die wichtigste Rolle, seinen Engel in einer verkommenen Welt.
Borowski wurde so, geliebt von den Zuschauerinnen und Zuschauern, zu einem originellen und regional geprägten „Tatort“-Protagonisten aus dem nördlichsten Bundesland, der TV-Geschichte geschrieben hat, wie es seine langjährige Redakteurin Sabine Holtgreve formuliert. Ähnlich wie Götz Georges „Schimanski“ für den Ruhrpott ist „Borowski“ eine Identifikationsfigur norddeutscher Prägung geworden, er hat das Bild des typisch Norddeutschen über die Landesgrenzen geprägt.
Ohne seinen herausragenden Darsteller Axel Milberg wäre dies undenkbar gewesen. Der „Natural Born Kieler“ hat die Borowski-Reihe ursprünglich initiiert, er hatte den NDR überzeugt, Kiel und Schleswig-Holstein wieder auf die „Tatort“-Landkarte zu bringen. Gemeinsam mit Regie-Größen wie Angelina Maccarone, Friederike Jehn, Claudia Garde, Eion Moore, Stephan Wagner, Christian Alvart, Sven Bohse, Ilker Catak , Andreas Kleinert, Christian Schwochow, Lars Kraume - to name but a few -, erzählte er in seinen „Tatorten“ von Drogen und vom Darknet, von frauenfeindlichen Pick up Artists, Kinderarmut in Kiel, vom Heavy-Metal-Festival in Wacken, der dänischen Minderheit in Schleswig oder dem Fall Barschel und vor allem von merkwürdigen Täterinnen und Tätern, die in Schleswig-Holstein verortet waren. Neben ihm glänzten dabei die wunderbaren Kollegen wie Thomas Kügel, Maren Eggert, Sibel Kekili und Almila Bagriacik und unvergessliche Gegenspieler wie Sybille Canonica, Lavinia Wilson, Lars Eidinger oder August Diehl, die immer für einen Albtraum gut waren.
Ihnen gilt stellvertretend für alle anderen Mitwirkenden vor und hinter der Kamera der große Dank des NDR - und natürlich auch der Produzentin Kerstin Ramcke, die die Reihe von Beginn an begleitet hat. Zwei Autoren muss man dabei allerdings herausheben: Milbergs Freunde, die Autoren Henning Mankell und Sascha Arango, von denen der Nordic Noir Touch der Reihe entscheidend geprägt wurde. Arango hat insgesamt zehn der 44 Fälle mit Klaus Borowski geschrieben, er ist immer stärker mit dieser Figur verwachsen, seinen Nickname „Borongo“ hat er sich redlich verdient und nun unter Schmerzen für einen würdigen Abschied des Kieler Hauptkommissars aus dem „Tatort“-Universum gesorgt: „Borowski was here“. Oder um es mit Neil Young zu sagen: „The King is gone but not forgotten“.
Christian Granderath, NDR Fiction-Chef
BESETZUNG
Klaus Borowski
Axel Milberg
Mila Sahin
Almila Bagriacik
Roland Schladitz
Thomas Kügel
Robert Frost
August Diehl
Dr. Kroll
Anja Antonowicz
Frieda Jung
Maren Eggert
Elenor Frost
Corinna Kirchhoff
Uschi Schönlein
Klara Lange
Peggy Schulz
Astrid Meyerfeldt
u. v. m.
STAB
Regie
Lars Kraume
Buch
Sascha Arango
Kamera
Jens Harant
Schnitt
Stefan Blau
Kostümbild
Karin Lohr
Maskenbild
Lena Brendle, Rebecca Koch
Casting
Nessie Nesslauer
Szenenbild
Zazie Knepper
Ton
Detlef Fiebig
Musik
Christoph Maria Kaiser, Julian Maas
Produktionsleitung
Patrick Brandt (Nordfilm GmbH), Daniel Buresch (NDR)
Herstellungsleitung
Marcus Kreuz
ProduzentInnen
Kerstin Ramcke, Sabine Timmermann und Alfred Holighaus
Redaktion
Christian Granderath, Sabine Holtgreve
Drehzeit
22.01.2024 – 21.02.2024
Länge
87:01 Minuten
Drehorte
Kiel, Hamburg und Umgebung
Der „Tatort: Borowski und das Haupt der Medusa“ ist eine Produktion der Nordfilm GmbH im Auftrag des Norddeutschen Rundfunks für Das Erste.
Der NDR „Tatort: Borowski und das Haupt der Medusa“ auch als Audio-Podcast in der
ARD Audiothek!
Begleitend zum Krimi gibt es die neue „Tatort“-Folge auch als Hörfassung – z. B. für unterwegs. Mit den Original-Stimmen aller Schauspielerinnen und Schauspieler sowie einer Erzählstimme, die durch die Handlung der Geschichte führt, wird aus dem Fernsehkrimi auch ein Hörgenuss. Die 90-minutige Hörfilmfassung steht begleitend zur Erstausstrahlung im Fernsehen ab dem 16. März 2025 in der ARD Audiothek zum Streaming und Download bereit.
„Wir haben nicht irgendeinen Fernsehfilm gedreht, sondern für uns alle bedeutete das in diesem Augenblick die Welt“
Gespräch mit Axel Milberg
Wenige Tage sind es noch bis zur Pensionierung. Klaus Borowski sieht die Leere heranschleichen und versucht sie zu füllen. Aber im Reisebüro merkt er: Was für andere eine Sehnsucht ist – Urlaub machen, abschalten, mal rauskommen, die Welt bereisen – ist für ihn ein Graus. Auf dem Bürgeramt gerät Borowski statt an einen Reisepass an einen Fall. In der Behörde sind kürzlich zwei Kolleginnen verstorben. Seltsam genug. Aber auch das Foto eines Hauses weckt Borowskis Interesse: Dort wohnt IT-Fachmann Robert Frost, der sich dauerhaft krankgemeldet hat. Borowski kennt das Haus. Schon als Kind hat es ihm bei jedem Vorbeigehen Angst eingejagt.
Wenn in Klaus Borowski das Interesse geweckt ist, fährt er wie auf Schienen einer Lösung entgegen. Dann kennt er keine Hindernisse wie Dienstanweisungen oder fehlende Durchsuchungsbeschlüsse. Es ist ein tranceartiger Zustand zwischen Grübeln und einer auf Hochtouren laufenden Intuition. Als er in Robert Frosts Haus steht, saugt er die Beklemmung, die von diesem Ort der Kontrolle und Zurichtung ausgeht, förmlich ein. Wer hier hat leben müssen, hat Schaden an seiner Seele genommen. Hier ist Schreckliches passiert.
Seinen Abschied versucht Borowski zu ignorieren. Wie wird es in Zukunft sein, wenn es ihn wie magisch an solche Orte zieht? Eine Dienstmarke rechtfertigt dann nicht mehr sein Eindringen.
Auch die Vergangenheit drängt heran. Frieda Jung geistert durch seine Gedanken. Fragen wie, was hätte sein können, was wird kommen, vermischen sich zu unwillkürlichen Tagträumen. Es ist Talent und Fluch zugleich, sich so tief in einen Menschen hineinzudenken wie in Robert Frost, einen Mann, der gerade erst zu töten begonnen hat und nicht vorhat, damit wieder aufzuhören.
In „Borowski und das Haupt der Medusa“ wird Klaus Borowski in den Ruhestand geschickt. Wie sieht er dem wohl entgegen nach diesem letzten Fall?
Zunächst einmal hat mir sehr gefallen, dass Borowski hier als jemand erzählt wird, der sich auf den Ruhestand offensichtlich überhaupt nicht vorbereitet hat. Der also auf Sicht gefahren ist und auch auf Sicht weiterfährt, und plötzlich überfällt ihn dieses Datum. Es ist ein Überfall. Es ist eine Einmischung in sein Berufsleben, dass plötzlich ein Tag feststeht, an dem eine Uhrzeit abläuft bis hin zu einem Minutenzeiger, was folgenreich ist in der Geschichte. Hinter dieser Trennscheibe ist weißes Land, unbekanntes Gelände.
Und dass Borowski unvorbereitet ist, lässt ja Rückschlüsse zu auf seine Haltung zur Arbeit, dass sie offensichtlich alles für ihn war, dass er sie auch als Passion wahrgenommen hat. Und da sehe ich auch eine Parallele zu mir selbst, der nicht mit 65 denkt, „Gottseidank habe ich das erreicht, und nun kann ich endlich das machen, was mich eigentlich erfreut“, sondern sagt: So what, ich denke da nicht drüber nach. Also: Borowski weiß es nicht.
Im Film entgegnet Borowski auf die Frage, ob er Freunde habe: „Einen.“ Roland Schladitz. Hobbys und viele Freunde, auf die er sich im Ruhestand konzentrieren könnte, hat er also nicht.
Nein, Hobbys haben die ersten Borowski-Folgen kaum überlebt, als da waren: Whisky- und Rotweintrinken, Hörspiele und Radio hören. Naheliegende Hobbys wie Segeln oder Angeln habe ich mir verbeten, das sah mir zu sehr nach Seniorenteller aus. Was Kontakte anbetrifft: Er hat eine Tochter, die jedoch ausgewandert ist, und es gab da einen Ex-Knacki, den er ab und an um Rat fragte – das alles ist im Laufe der Reihe aber auf der Strecke geblieben und nicht vermisst worden. Nur Schladitz ist als Freund geblieben.
Aber es könnte sein, dass die Freundschaften, die Borowski hat, sich auf eine gewisse Weise eigentlich auf seine Täter bezogen haben. Niemandem war er so nahe, über niemanden hat er so nachgedacht, niemanden hat er versucht, so zu verstehen wie die Täterinnen und Täter der 44 Fälle. Menschen, die er verstehen musste, um sie der irdischen Gerechtigkeit zu überführen. Das hat ihn interessiert und gar nicht so sehr von der moralischen Seite, sondern, weil er sie schlicht verstehen wollte. Freunde sind sie nicht geworden, aber Freundschaften hat er manchmal, gerade in den offen erzählten Fällen von Sascha Arango, vorgetäuscht, um von ihnen so viel zu erfahren, dass er am Tag X sagt: „Du übrigens, tut mir ein bisschen leid jetzt, aber ich muss dich festnehmen!“ Deutlich häufiger als bei anderen Kommissaren wird Borowski mit dem personifizierten scheinbaren Bösen konfrontiert – auch in seiner letzten Folge mit dem von August Diehl gespielten Robert Frost. Das hat erst einmal sehr viel mit der Handschrift und dem OEuvre des bereits erwähnten Sascha Arango zu tun, aufgrund seiner Bedeutung als einer Art Headautor der Reihe scherzhaft auch „Borongo“ genannt.
Andererseits passt es perfekt auf die Ausgestaltung der Figur. Warum passiert Borowski das so oft?
Ich erinnere mich noch an einen Termin, 2003 oder 2004, mit der Produzentin Kerstin Ramcke. Sie brachte da einen Autoren aus Berlin mit, der von einem Homunkulus erzählte, der in einer katholischen Kirche in Kiel Körperteile ablegt und in der Kanalisation wohnt. Und ich starrte diesen komischen Vogel an und dachte: „Ein Verrückter – wie komme ich hier wieder raus?“ Und es gibt in Kiel noch nicht mal katholische Kirchen, der hat ja keine Ahnung! Das war Sascha Arango, man könnte übrigens auch „Aranowski“ sagen, gäbe es nicht schon einen Regisseur ähnlichen Namens, und den geheimnisvollen Priester hat dann Uwe Bohm gespielt. Wir drehten den Film „Borowski in der Unterwelt“ fünf Wochen lang in der Kanalisation. Das war der Anfang, an dem ich begriff, dass dieser Mensch Sascha Arango ganz anders erzählt, und ich merkte, das ist eigentlich genau das, was ich gesucht hatte.
Meine ursprüngliche Idee, einen kriminellen Ermittler zu erzählen, aber einen, der wie Robin Hood es den Bösen nimmt und den Guten, die aber keine Gerechtigkeit erwarten können, zuschanzt, das war in der ARD in einer Reihe nicht durchsetzbar. So aber blieb ein kleiner Schatten mit dieser dunklen Seite auf Borowski, der – und da fand ich den modernen Ansatz unbedingt notwendig – nicht mit dem moralischen Zeigefinger ermittelt und mit persönlicher Empörung und gespielter Entrüstung die Verdächtigen zusammenmeiert, sondern versucht, sie zum Sprechen zu bringen. Höflich bleiben wie ein guter Journalist, die als Freund kommen, verständnisvoll, neutral, sich Zeit lassen, Zigarette anbieten, ein Glas Wasser reichen: Menschen auf andere Weise knacken.
Wie schaust Du heute, da Dich Borowski fast die Hälfte Deiner beruflichen Karriere begleitet, auf viele Deiner Rollen zurück?
Wenn man mich fragt, „Herr Milberg, was würden Sie gerne mal spielen“, dann antworte ich immer: eigentlich die gleichen Rollen wieder, aber diesmal richtig. Manchmal bin ich peinlich berührt über meine alten Filme und denke: Falsch, das hätte anders sein müssen. Unschuldiger zum Beispiel, naiver, nicht wissend, was die Antwort sein wird, mich vollkommen in der Situation, im Augenblick verlieren – generell als Schauspieler weniger wissen. Noch kleinere Schritte machen in die ungewisse Zukunft eines Erlebnisses hinein. Bei komischen Szenen zum Beispiel das Maß an Natürlichkeit finden, das ja immer der Eintritt in die Komik wider Willen ist. Wenn man es ernst meint mit der Komik, dann geht es wirklich um diese Verteidigung der Unschuld.
Gilt das rückblickend für Dich für alle Rollen? Wie ist das denn zum Beispiel beim „Tatort: Borowski und das Haupt der Medusa“, was würdest Du da gerne nochmal anders spielen?
Es kommt einem ja manchmal der Zufall zu Hilfe. Hier bin ich beim Drehen einer Szene beim Übersteigen eines Zaunes mit der Hose hängengeblieben, woraufhin der Regisseur Lars Kraume sagte: „Okay, wir drehen’s nochmal.“ Darauf ich: „Nein, warum?“ Der Zufall muss immer eine Rolle spielen. Radikaler gesagt: Was im Buch steht, ist das eine, aber es in die Lebendigkeit hineinbringen, jedes Mal etwas anderes ausprobieren, ist das andere.
Ich nenne ein Beispiel, bei dem ich erst in der schlaflosen Nacht nach dem Drehtag dachte: „Wäre ich da mal früher draufgekommen.“ Ich gehe als Borowski in dem Haus, in dem Robert Frost, also die Figur, gespielt von August Diehl, aufgewachsen ist, durch dessen Kinderzimmer. An der Decke hängt ein Modellflugzeug, und er ist unmittelbar hinter mir und will gerade eine Schlinge um meinen Hals legen, als es unten an der Tür klingelt. Im Nachhinein dachte ich, das hätte man noch auf die Spitze treiben müssen, dass er sich meinem Hals von hinten nähert, während ich gleichzeitig den linken Arm hochhebe, um ein bisschen an dieses Flugzeug ein wenig hin- und herwippen zu lassen – also einen noch tieferen Eingriff in seine Privatsphäre vorzunehmen. Und nun, in dem Moment, wo sich die Schlinge meinem Hals nähert, kommt mein Arm dazwischen. Eine Sekunde, in der alles ganz nah beieinander ist – dann klingelt es. Der Arm fährt hinunter, die Schlinge verschwindet, ich drehe mich um, da ist niemand mehr und ich öffne die Tür. Solche Momente gehen mir manchmal im Kopf herum. Das Drehen ist immer auch ein Ringen mit dem Unwahrscheinlichen, dem Unerwarteten. Wenn Drehbuch, kreative Partner, Redaktion das alles mitmachen, zulassen oder eine Vorlage geben, dann ist das ein unglaublich lebendiger Prozess. Und wenn man diese Lebendigkeit spürt, ist alles gut. Da geht es nicht um Richtig oder Falsch, aber dass man in dem Augenblick das sieht oder für möglich hält, das ist der Genuss in diesem Beruf.
Du hast schön beschrieben, wie wichtig Dir auch die Unschuld ist in Deiner Arbeit, Raum zu haben für den Moment und für die Fantasie. Du hast mit tollen Regisseurinnen und Regisseuren gearbeitet, Ilker Çatak, der später für den Oscar nominiert war, Christian Schwochow, der „The Crown“ gemacht hat, Friederike Jehn, die für den „Tatort“ einen Regiepreis gewonnen hat, Claudia Garde – hast Du bestimmte Momente, die du erinnerst, die besonders intensiv waren?
Ganz viele Momente. Als Hüseyin Tabak nach einem wilden Take, in dem es physisch intensiv war, ausrief: „Holy shit!“, wie er mit uns mitatmete, aber auch etwas Poetisches aus türkischem Hintergrund einbrachte und diese Symbolkraft der Möwe beschwor, die Geschichten und Szenen verbinden sollte über der Kieler Förde. Oder mit Ilker Çatak bei den Dreharbeiten zu „Borowski und der gute Mensch“: Borowski wird in einer Szene aus einem Gasherd gezogen, verlässt mit der leeren Waffe die Wohnung und rennt zum Auto. Da sagte ich zu Ilker: „Ist ja alles schön und gut. Aber: Wohin fahre ich? Warum habe ich es so eilig? Und wo ist denn jetzt Kai Korthals? Und wieso bin ich so schnell wieder auf den Beinen?“ Darauf Ilker: „Axel, Du hast mir gerade vier vollkommen berechtigte Fragen gestellt. Ich kann dir auf keine eine Antwort geben, ich weiß nur eins: Wir haben noch 15 Minuten, um diese Szene jetzt zu drehen.“ Sag ich: „Okay, mit der Antwort kann ich was anfangen. Lass uns drehen.“
Beim gleichen Film mit Ilker und Judith Kaufmann an der Kamera: Ich rasiere mich vor dem Spiegel, als ich im Radio höre, Korthals sei ausgebrochen. Die Kamera kommt immer näher, und ich soll hier mit der Hand, da mit dem Schaum und das scharfe Messer und die Augen, und schau da hin und dorthin – irgendwann war das überhaupt nicht mehr zu drehen, weil ich mich um mich selbst hätte wickeln müssen. Trotzdem macht man das alles mit und kämpft um Millimeter. Oder „Borowski und der stille Gast“: Wir drehen bei Projensdorf vor der Levensauer Hochbrücke, Nebel, der Wohnwagen brennt. Ich renne über das Feld, Kai Korthals mit einer Axt hinter mir. Der Kameramann Ngo The Chau rennt mit seiner Handkamera nebenher, Regisseur Christian Alvart rennt, ebenso Teile des Teams mit Licht. Über der Kamera fliegt die Oktokopter-Drohne und darüber noch ein Hubschrauber. Also drei Etagen Kameras übereinander, und du stolperst und rennst über dieses Feld, Christian hantiert mit Megafon und Walkies. „Aus dem Bild! Hintergrund!“ Das werde ich nicht vergessen. Leidenschaft pur, Besessenheit, zum Bersten Energie, Ehrgeiz, Vision. Wir haben nicht irgendeinen Fernsehfilm gedreht, sondern für uns alle bedeutete das in diesem Augenblick die Welt.
Borowski ist legendär durch zwei Aspekte: Zum einen die Figuren des Bösen, die man nicht mehr vergisst, auch weil sie ohne moralische Empörung gezeichnet sind. Zum anderen vollkommen surreale Einlagen, diese überraschenden Situationen, die es sonst kaum im deutschen Fernsehfilm gibt. Genau wie die Figur von Borowskis großer Liebe, der Psychologin Frieda Jung, gespielt von Maren Eggert …
Die erste Begegnung war in ihrem Dienstzimmer, in das Borowski einbestellt wurde und er einfach nicht spricht. Sie hat trotzdem alles aus der Figur Borowski herausgelesen. Komplett. Und es war klar, dass es eigentlich nur eine große Liebe sein kann. Eine unvergessliche Szene. Frieda Jung ist eine Figur, die aus Borowskis Leben zwanzig Jahre lang nicht verschwunden ist.
Wenn ungewöhnliche Menschen mit ungewöhnlichen Ideen zusammenkommen, dann entsteht so etwas. Da ist diese sehr spezielle Maren Eggert. Und da ist dieser unfassbar talentierte Sascha Arango, und da sind Menschen, die uns drei zusammengebracht haben, die wir in dem Augenblick diese Energie gespürt haben. Es gibt ja Schauspielerinnen und Kollegen, die Schwächen, Unsicherheiten, Traumata, auch unsympathische Seiten einer Figur, nicht spielen und umgeschrieben haben wollen, anstatt zu begreifen, dass das das Salz in der Suppe ist. Das Verdruckste oder das Arrogante, die Überheblichkeit, die Ratlosigkeit oder Atemlosigkeit oder das Zu-langsam-Sein – es ist ein großer Teil der Arbeit, all diese Dinge, die eine Lebendigkeit erzählen, nicht wegzubügeln in eine cleane Pseudo-Wirklichkeit auf TV-Ebene. Da erst taucht dann auch der Humor auf, in unmittelbarer Nachbarschaft von Ungeheuerlichem, Unsagbarem oder Unerträglichem. Wir kennen das und erleben das, wenn wir dafür aufmerksam sind, täglich in unserem Leben.
Du hast diese Figur und damit diese Reihe über zwanzig Jahre lang geprägt, jetzt ist es Zeit für den Abschied. Für Dich von der Figur und für Borowski von der Arbeit. Wie ergeht es Dir damit?
Ohne zu viel zu verraten, aber für Borowski sieht es ja so aus: Da ist kein großer Abschied, da ist kein großer Applaus, man macht sein Ding, man dreht sich um und geht. Und er will es auch so. Ich finde das sehr norddeutsch. Es zeigt aber auch, dass er das nicht tut, um als Held für die anderen dazustehen, sondern es hat sich so ergeben. Er hat es so gut gemacht, wie er konnte. Er ist keiner, der nachts schlaflos dachte, ich werde verrückt, und ich halte den Schmutz der Welt nicht aus. Ihm war der Beruf wichtiger als das private Glück – Frieda Jung hat ihm das einmal im Fahrstuhl gesagt, und es führte auch zur Trennung. Es gab für ihn kein Privates in diesem Leben.
Für mich ist es ähnlich. Ich bin auf Sicht gefahren, und ich habe eine sehr eigene Beziehung zur vergehenden Zeit. Sie vergeht merkwürdigerweise für mich nicht. Irgendwo unten im Keller läuft ratternd eine Uhr in dem Gebäude meines Lebens, aber da steige ich ja nie hinunter. Und hier oben ist es licht und hell und lebendig, und ich bin weder erschöpft noch schaue ich auf ein reiches Leben zurück, sondern das Nächste fesselt und interessiert mich genauso. Und tatsächlich sage ich vollen Ernstes, der beste Film kommt noch, der nächste Film ist es. Die Dichte an erfüllenden Aufgaben nimmt zu. Kiel und Schleswig-Holstein sind in dem Moment wichtig, wenn ich da bin, und wenn ich nicht da bin, sind sie eine schöne Erinnerung. Ob ich dort wieder hinfahre – ich weiß es nicht. Ich möchte aber auch nicht, dass es irgendwie eine melancholische Erinnerung wird, und ich glaube, das beste Mittel dagegen ist, weiterzumachen solange ich fit bin und neugierig. Und das bin ich mehr denn je, und das hat zu tun mit dem eben Gesagten: Ich habe das Gefühl, dass ich manche Dinge jetzt erst so verstehe, dass ich sie spielen könnte, anders spielen könnte und besser spielen könnte.
Das Gespräch führten Christian Granderath und Sabine Holtgreve.
„Ich finde, dass wir unserer Zeit deutlich voraus waren und trotzdem nie aufgehört haben, voneinander zu lernen“
Gespräch mit Almila Bagriacik
Wenn Mila Sahin eins nicht leiden kann, dann kriminelle Söhne und Mütter, die sie schützen wollen. Mütter, die im Revier sitzen und Mitleid für den talentierten, aber fehlgeleiteten Dealersohn zu wecken versuchen, um dann zu einem plumpen Bestechungsversuch überzugehen. Robert Frosts Mutter ist auch so eine, aber viel schlimmer. Zunächst hat Mila Sahin wie Schladitz auch nicht an einen Fall geglaubt. Hatte Zweifel an Borowskis Intuition. Aber verdammt, Borowski hat Recht behalten.
Wie üblich greift Borowski in erster Linie ihre IT-Kompetenz ab, ansonsten neigt er zum Alleingang. Mal eben so ein Handy zu hacken ist illegal. Nicht, dass sie da nicht auch mal ein Auge zudrücken kann, aber sie will vom Nutzen überzeugt sein. Dann kann sie auch voll mitgehen. Illegale Hausdurchsuchung? Die war nötig, da war sie dabei, auch wenn Borowski behauptet, sie hätte draußen gewartet. Sie braucht keinen Schutz.
So sehr sie oft von Borowski genervt gewesen ist, von seinen verqueren psychologischen Labyrinthen, seiner Geheimniskrämerei, so sehr ist er für sie doch zuletzt Klaus geworden, nicht nur, weil sie sich mittlerweile duzen. Ein Kollege, dem sie vertrauen kann und der – so kommt es ihr vor – auch ihr vertraut. Es ist eine große Solidarität entstanden, die sich nicht immer im reibungslosen Miteinander ausdrückt. Aber wenn es ernst wird, ist Borowski da. Außer zu seiner Abschiedsfeier. Dabei hat sie extra mit Sahne „Tschüss Borowski“ auf die Torte geschrieben. Aber sie hätte es wissen müssen: Borowski kann nicht aufhören, wenn noch ein Fall an ihm nagt.
Nach 13 gemeinsamen Fällen verabschiedet sich Borowski und mit ihm Axel Milberg aus dem Kiel-„Tatort“. Haben Sie noch Erinnerungen an Ihren ersten gemeinsamen Drehtag?
Auf jeden Fall. Das war unser Film „Borowski und das Haus der Geister“. Wir drehten im Sommer, und es war sehr warm. Axel trug damals einen Bart, und unser erstes Teamfoto wurde in dem Raum geschossen, in dem die Ballettstunden des Filmes stattgefunden haben. Der Duft der Lavendelblüte, die Axel mir zu meinem ersten Drehtag auf den Maskentisch legte, zog sich durch den gesamten Dreh. Vielleicht lag es auch daran, dass er sich selbst ebenfalls eine Lavendelblüte an seine Brusttasche steckte. Ich bin ein großer Fan von Details und habe damals schnell gemerkt, dass das unsere Gemeinsamkeit ist. Ich war erst 26 und damals die jüngste „Tatort“-Kommissarin. Ich spürte einen enormen Wachstumsdrang, aber am Ende tat es meiner Rolle gut, ihr Zeit zu geben, und Axel nahm mir jegliche Nervosität.
Was hat für Sie die Zusammenarbeit mit Axel Milberg an Ihren Figuren ausgemacht?
Sowohl vor als auch hinter der Kamera ist über die Jahre eine zeitlose Bindung entstanden. Unser Altersunterschied spielte überhaupt keine Rolle. Keiner versuchte, den anderen zu belehren. Selbst wenn es in den Drehbüchern manchmal Dialoge gab, die den Altersunterschied betonen wollten, fanden wir immer einen Weg, davon wegzukommen und es authentischer zu gestalten, weil wir es absolut uninteressant fanden, das Offensichtliche zu unterstreichen. Ich finde, dass wir damit unserer Zeit deutlich voraus waren und trotzdem nie aufgehört haben, voneinander zu lernen.
Welches sind die Momente aus 13 gemeinsamen Filmen, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind?
Es gibt so viele, die mir einfallen ... Als wir „Borowski und der Fluch der weißen Möwe“ drehten, fand unser Showdown auf dem Dach von einem Hochhaus in Kiel-Gaarden statt. Ich weiß noch, dass unsere Sicherungen mehrmals vor und nach jedem Take geprüft wurden und eine gewisse Anspannung wegen der Höhe herrschte, aber keiner damit gerechnet hatte, dass wir auch untereinander einen Unfall herstellen konnten. Während der Festnahme eines Polizeischülers prallten der Kameramann und ich aufeinander und trotz der Schmerzen mussten wir alle lachen. Dadurch löste sich die Anspannung wegen der Höhe in Luft auf, und es entstand einer meiner Lieblingsfotos mit Axel auf dem Dach und Kühlpad auf dem Kopf. Und generell sind alle Momente und Gespräche mit Axel sehr kostbar für mich. Ich habe ihm immer sehr gerne zugeschaut.
Der letzte gemeinsame Fall „Borowski und das Haupt der Medusa“ zeigt noch einmal deutlich, wie loyal Mila Borowski gegenüber ist und wie gut beide zusammenarbeiten. Wie würden Sie beschreiben, wie Mila Sahin mit dem Abschied umgeht?
Ich denke, dass Mila genauso gerne mit Borowski gearbeitet hat wie ich mit Axel. Mila zeigt sich tapfer, wohingegen ich bei unserem Abschiedsdinner für Axel einige Tränen vergossen habe. Auch für Mila geht eine Ära zu Ende und gleichzeitig beginnt etwas Neues, Unbekanntes. Und eine gewisse Nervosität ist auch bei Mila zu sehen.
Die Kälte dieses unheimlichen Hauses von Robert Frost trifft in Mila Sahin einen Nerv – was geht da in ihr vor, als sie die Bilder des Mörders mit dessen Mutter sieht?
Mila wird daran erinnert, wie gut sie es mit ihren Eltern hatte und wie prägend das Elternhaus ist, in dem man aufwächst. Sie betrachtet den Täter auch wie ein Opfer, der zu grausamen Taten fähig ist. Er stellt eine große Gefahr für seine Mitmenschen dar und wieder einmal kommt sie zu dem Entschluss, dass „hurt people hurt people“.
Können Sie die Entwicklung beschreiben, die Ihre Figur Mila Sahin bisher genommen hat?
Sieben Jahre bin ich nun dabei. Das achte Jahr hat begonnen. Ich habe noch nie eine Rolle so lange verkörpern und beobachten dürfen. Mit der Zeit gab es immer mehr Einblicke in Sahins Wertesystem, was sie ausmacht und wofür sie steht. Ich sehe eine Frau, die genau weiß, warum sie heute da steht, wo sie ist. Sie war lange auf der Suche nach einer neuen Version ihrer selbst und deshalb ließ sie sich damals von Berlin nach Kiel versetzen. Diese Entscheidung hat sie mit Sicherheit auch insgeheim hinterfragt. Heute wirkt sie auf mich selbstbewusster und purer denn je. Kiel hat ihr gut getan. Sie ist angekommen.
Der Kieler „Tatort“ wird ja mit Ihnen in neuer Konstellation fortgesetzt – eine erste Doppelfolge ist bereits abgedreht. Als kleiner Ausblick, ohne zu viel zu verraten: Wie geht es mit Mila Sahin weiter, wird sie mit neuer Partnerin ganz anders agieren? Wie haben Sie sich in diese Weiterentwicklungen einbringen können?
Ich wurde in die Weiterentwicklung viel einbezogen und das hat mir enorm viel Spaß gemacht. Uns war allen von Anfang an klar, dass keiner Borowski ersetzen oder an seine Stelle treten kann und deshalb war das auch nie der Plan. Die Stimmung des Kieler „Tatorts“, also das wunderschöne Meer gepaart mit Einblicken in die düsteren Ecken Kiels, bleibt bestehen. Nichtsdestotrotz ist dies ein Neuanfang mit neuen Möglichkeiten und Geschichten von Menschen, die wir noch nicht kennen. Wir werden eine Sahin erleben, die bereit ist emporzusteigen, die sich auf die Stelle der Abteilungsleitung bewirbt und mehr bewirken will mit ihrer Polizeiarbeit. Sie versucht, sich ein gutes Team zusammenzustellen aus Menschen, denen sie vertraut. Doch es kommt alles anders als geplant. Mit ihrer neuen Kollegin herrscht eine ganz andere Dynamik, und es stellt sich die Frage, wie man aus solchen Gegenpolen Wachstum und Erfolg schöpfen kann. Es bleibt also maximal spannend.
„Robert Frost vertritt eines der ganz großen Genres im Kino, das 1960 mit ‚Psycho‘ einen Anfang nahm“
Gespräch mit August Diehl
Es hätte ein schönes Leben werden können, wenn Tante Inge immer da gewesen wäre. Der kleine Robert Frost wäre ständig wie ein kleiner Affe auf ihr herumgekrabbelt und sich dabei sicher gewesen: Die mag mich. Mutti ist da anders. Seit 40 Jahren lebt er mit ihr in diesem Haus, das seiner Seele zum Gefängnis geworden ist. Obwohl er sich doch wenig mehr wünscht, als endlich ein erwachsener „Robert“ zu sein, nennt sie ihn „Bobbele“. Niedlich klingt das, aber es macht ihn vor allem klein. Sehr klein. Kein einziges lobendes Wort hat sie in seinem ganzen Leben für ihn übriggehabt. Aber irgendwann – sehr bald – wird ihr sein Essen ein letztes Mal nicht geschmeckt haben.
Mathe kann Robert Frost, mit Menschen umgehen nicht. Er hat es zu Hause nicht lernen dürfen. Als IT-Experte in der Kieler Verwaltung ist er aber von Menschen umgeben. Kollegen und Kolleginnen, die lachen, feiern, lieben, Pläne schmieden. Während Robert Frost unter ihren Schreibtischen herumkriecht und Steckverbindungen von Computern prüft, quälen ihn Begehren und Erniedrigung. Da wird er nie dazugehören. So kann es für ihn nicht weitergehen. Und dann soll es auch für die anderen nicht weitergehen. Robert Frost beginnt ein Netz zu spinnen, in dem Menschen ihr Leben lassen sollen. Seine Mutter ist nur eine davon.
Ihre Filmografie ist außergewöhnlich, Sie arbeiten mit großartigen Regisseuren im In- und Ausland, machen sehr viel Kino, vereinzelt ein paar Serien. Dies ist nun Ihr erster „Tatort“ nach all den Jahren. Was bedeutet Ihnen diese Marke des deutschen Fernsehens?
Ja, es ist lustig, selbst im Ausland wird man auf den „Tatort“ angesprochen. Ich bin – wie viele andere – damit aufgewachsen, dass es am Wochenende zwei feste Termine gab: Die einen schauten samstags die „Sportschau“ und die anderen am Sonntag „Tatort“. Ich selber habe mir immer eher zufällig mal einen „Tatort“ angesehen, die ja in den Jahren auch wahnsinnig unterschiedlich ausgefallen sind. Lars Kraume hat mich jedenfalls angerufen und von Sascha Arangos Buch geschwärmt. Ich arbeite sehr gerne mit Lars, Axel Milberg kannte ich als Kind vom Theater, und die Borowski-Filme sind ja wirklich sehr beliebt. Also habe ich das Buch gelesen und fand diese nerdige Rolle großartig. Ich habe die Arbeit in Kiel und auch in Hamburg wahnsinnig genossen.
Die Geschichte der Borowski-„Tatorte“ ist gesäumt von einer Reihe bemerkenswerter pathologischer Mörder. Robert Frost setzt für Borowskis letzten Fall einen starken Schlusspunkt. Wie sehen Sie die Psychologie dieser Figur, worin fußt Frosts echt beängstigende Entwicklung?
Ich finde, so von außen gesehen, vertritt Robert Frost eines der ganz großen Genres im Kino, das 1960 mit „Psycho“ seinen Anfang nahm. Es ist damit zu einer Zeit entstanden, in der man sich zunehmend damit auseinandergesetzt hat, warum ein Täter eigentlich das tut, was er tut, insbesondere auch Serienkiller. Hieß es vorher, das seien Monster, deren Psychologie man nicht verstehen müsse, begann man nun, vor allem in den USA, sich Gedanken darüber zu machen. Bei Robert Frost beginnt diese Entwicklung ja im frühkindlichen Alter mit seiner sehr, sehr dominanten Mutter, die niemand anderen an ihn herangelassen hat. Aus dieser Psychologie heraus habe ich die Figur gesehen. Gerade die Anfangsszene erzählt ja sehr deutlich, in welch krankem Verhältnis sie zueinander standen. Darauf hat sich für mich alles aufgebaut. Ich denke, Robert Frost sieht diesen Mord an der Mutter als Befreiungsschlag, um endlich anzufangen, sein eigentliches Leben zu leben.
Das gab es im deutschen Fernsehen auch noch nicht allzu oft, dass eine Figur mit dem Kopf der Mutter in der Tasche herumläuft. Haben Sie sich mit dieser mehrfach eingebundenen Medusa-Mythologie für die Arbeit an Ihrer Figur beschäftigt?
Sascha Arangos Idee, die Mythologie der Medusa einzubinden, für die sich Borowski zu interessieren beginnt, ist ein schönes Beispiel dafür, wie sich dieser „Tatort“ auf eine tiefere Ebene begibt. Nicht nur in den Szenen mit dem Kopf der Mutter, sondern ganz allgemein zieht sich ja das Kopflose durch den gesamten Film. Borowski, der auch nicht mehr genau weiß, wo ihm sein Kopf steht, dann sein Chef – letztendlich dreht sich die ganze Folge um Kopflosigkeit und handelt vom Verlust von Kontrolle.
In der Tat statten Sie den Frost mit einer wirklich gespenstischen Kontrolle aus – sehr reduziert im Spiel scheint trotzdem in jedem Moment eine monströse Energie durch. Wie haben Sie sich schauspielerisch dieser Figur angenähert?
Erstmal ist Robert Frost ja ein unglaublich einsamer Mensch. Das ist eine Einsamkeit, die kein anderer versteht und mit der er aber eigentlich sein ganzes Leben lang schon umgehen muss. Und ich glaube, in dem Moment, wo er sich von seiner Mutter befreit, entsteht plötzlich eine Kontrolle, die er noch nie besessen hat. Und auch seine Hackerfähigkeiten verleihen ihm die Illusion geradezu eines Gottgefühls. Dass er quasi wie ein Puppenspieler agieren kann – das ist genau das, was ihm gefehlt hat in seinem Leben: Kontrolle. Denn bis dahin hat die Mutter immer alles kontrolliert. Zu dieser Einsamkeit gehörte für mich von Beginn an auch, dass er sehr wenig spricht. Und wenn, dann mit einer Stimme, die ihn selber überrascht. Die kommt irgendwo von außerhalb, die kommt gar nicht aus ihm raus.
Er wirkt in seinen Aktionen auch zunehmend genervt …
Ja, er findet das alles ganz schön anstrengend. Immer wieder kommt ihm etwas in die Quere, wofür er – in seinem Denken – nun wirklich nichts kann. Es ist immer die Schuld der anderen.
Sie sagten es bereits: Robert Frost ist eine Figur, die nur wenig Dialog hat. Ist das für die Figurenentwicklung eines Schauspielers schwieriger oder leichter?
Ich weiß nicht, wenn jemand wenig redet, dann kann trotzdem jede Einstellung ein Dialog sein, jede Geste, jede Reaktion. Aber grundsätzlich gilt für mich: Auf der Bühne würde ich für jeden Satz kämpfen, damit er nicht gestrichen wird, während ich im Film für jeden Satz kämpfen würde, dass er gestrichen wird. Je weniger Text, umso besser. Schauspiel ist im Film eine Reaktionskunst und auf der Bühne eher eine Aktionskunst.
Sehr viele gemeinsame Szenen hatten Sie mit Axel Milberg zwar nicht, dafür zwei sehr intensive – großartig, wie Sie beide in diesem grusligen Haus umeinander herumschleichen. Wie war Ihre Begegnung mit Axel Milberg in dessen letztem Borowski-Auftritt?
Ich fand es unglaublich schön, mit ihm zu arbeiten, und fand es menschlich sehr beeindruckend, wie er am Set damit umgegangen ist, seinen letzten Borowski zu drehen. Die Figur hat ihn ja lange begleitet. Ich hatte großen Respekt davor, wie er sich über all die Jahre diese Figur angeeignet hat. Während ich noch auf dem Weg war, den Robert Frost zu finden, wusste er natürlich ganz genau, was für ein Mensch Borowski ist. Mir hat das Sicherheit gegeben. Ich finde es immer gut, wenn mein Partner sehr genau weiß, was er spielen will.
„Es sollte nie alles gleichbleiben, im Gegenteil: Alles fließt“
Interview mit Thomas Kügel
Am Ende fühlt sich Roland Schladitz noch einmal in seiner Ehre gekränkt. Während er mit wackligen Knien Borowskis Pensionierung entgegenzittert, will Borowski einen Fall noch einmal aufrollen, den Schladitz bereits zu den Akten gelegt hat. Es ist wie so oft: Sein etwas oberflächlicher gesunder Menschenverstand gegen Borowskis allgegenwärtigen Zweifel. Und fast immer gewinnt der Zweifel. Aber auch wenn es zwischen ihnen laut wird, auch wenn befohlen, gedroht und getrotzt wird: Beide wissen, dass sie es nicht zum Äußersten werden kommen lassen.
Natürlich weiß Schladitz, der Vorgesetzte, wer von ihnen der fähigere Kriminalbeamte ist. Es zeigt sich wieder: Wo Schladitz nichts gesehen hat, kommt Borowski einem Serienkiller und vielleicht sogar Massenmörder auf die Spur. Borowskis letzte Tage sind ohnehin für Schladitz ein Wechselbad der Gefühle. Wie bereitet man dem langjährigen Freund einen würdigen Abschied? Wie geht man damit um, dass er dann weg ist? Leicht gehen Schladitz Gefühle nicht über die Lippen. Aber dann bricht es heiß aus ihm heraus: „Ich werd‘ dich so verdammt vermissen.“ Schladitz weiß gar nicht, wie nah er daran ist, Borowski für immer zu verlieren.
Seit dem ersten Fall 2003 spielen Sie die Rolle des Roland Schladitz und gehören damit zu den engsten Wegbegleitern des Kieler „Tatorts“. Können Sie sich noch daran erinnern, als Sie damals das Angebot bekommen haben?
Ja klar, „Väter“ hieß der erste Film, Thomas Freundner hat Regie geführt. Als ich das Angebot bekam, war ich gerade am Deutschen Schauspielhaus, hatte viel gedreht und eigentlich kaum Zeit. Ich habe aber zugesagt, weil ich zum einen die Rolle sehr spannend fand und zum anderen ist Kiel eine Stadt, in der ich meine Karriere als Theaterschauspieler begonnen habe. Diese Figur des Vorgesetzten haben wir von Beginn an ein bisschen anders angelegt, als man das so gewohnt war. Weniger als den ewigen Grantler und Nörgler, sondern als jemanden, der aus einer Freundschaft heraus agiert. Borowski und Schladitz haben zusammen die Ausbildung zum Kommissar absolviert. Der eine ist dann in die Ermittlung gegangen und der andere in die Vermittlung. Diese Freundschaft währt über diese 20 Jahre bis jetzt zum letzten Borowski-„Tatort“.
Was waren für Sie die Höhepunkte dieser Freundschaft?
Ganz klar, als Schladitz mal bei Borowski eingezogen ist. Er hatte Ärger mit seiner Frau, wohnte dann eine Zeitlang bei Borowski und hat für ihn gekocht. Diese Geschichte hat sich über mehrere Folgen hingezogen, sie haben sich immer wieder getroffen, waren im Restaurant essen oder der eine hat für den anderen gekocht. Sascha Arango hat über die beiden immer von der „heimlichen Liebe“ gesprochen. In ihrer Unterschiedlichkeit ziehen sie sich wie Magneten an, und dadurch entsteht neben Reibung eben auch eine Tiefe. Das eigentliche Dilemma in Schladitz’ Figur besteht ja darin, seine zwei Rollen zusammenzubringen: Vorgesetzter und Freund. Das bringt ihn immer aufs Neue in die Bredouille. Momente, wenn das Pendel zur Chefseite umschlägt und er sagt, „Nein, so läuft das nicht“, und dann macht er es trotzdem anders. Schladitz liebt ihn einfach und ist von Klaus Borowski auch als Ermittler sehr überzeugt. Diese Liebesgeschichte zwischen Schladitz und Borowski wird nun unaufgelöst bleiben. Sie ist sozusagen ein ungelöster Fall.
Schladitz bringt immer auch eine Menge Humor in die Filme. Woraus entsteht der?
Ja, da erfüllt er diese Sidekick-Funktion. Mehr oder weniger am stärksten ausgeprägt ist das in Sascha Arangos Büchern. Er hat darauf immer ein besonderes Augenmerk gerichtet und es verstanden, in kurzen, knappen Sätzen diese beiden Charaktere und ihre wunden Punkte auf so besondere Weise herauszuarbeiten. Die Beziehung von Schladitz und Borowski lebt von einer gewissen Ironie, auch einer Leichtigkeit, in der sie sich selber nicht so ernstnehmen, in der sie miteinander frotzeln, auch im Zusammenhang mit der Arbeit. Also ich denke zum Beispiel an den letzten Teil der Korthals-Trilogie, wo es Schladitz rausrutscht: „Diesmal machst du ihn fertig, Klaus.“ Das sollte sonst sicher kein Polizist zu einem anderen sagen. Aber angesichts der Freundschaft kocht es manchmal in ihm hoch, und das macht ihn auch liebenswert.
In „Borowski und das Haupt der Medusa“ zeigt sich Schladitz wirklich sehr emotional angesichts von Borowskis nahendem Abschied. Er befürchtet sogar, er könne auswandern. Ist es auch so ein bisschen die Angst, alleine zu sein, eine Furcht vor Verlassenwerden und Einsamkeit?
Wir kennen das ja alle, und es droht uns allen. Jemand verlässt einen in der Beziehung oder jemand stirbt oder geht einfach nur weg – Abschied ist immer ein Thema, das uns Menschen mehr oder weniger tief bewegt. Und zum einen sind die beiden ja wirklich zusammengewachsen. Zum anderen aber ist Borowski für Schladitz natürlich auch eine Hilfe, dem Druck standzuhalten. Er kann ja die Fälle nicht alleine lösen, er braucht ihn. Borowskis Quote ist hoch, und das sorgt auch nach oben hin für gute Stimmung. Insofern schwingt da auch eine Angst mit: Komme ich allein ohne ihn überhaupt zurecht? Wer kommt nach? Alles, was sich eingespielt hat zwischen den beiden, ist plötzlich weg. Das tut schon weh.
Borowski und Sahin decken in der Folge auf, dass Schladitz in einem vergangenen Fall etwas übersehen hat. Für einen kurzen Moment arbeiten sie gegen ihn, er fühlt sich ertappt. Wird Schladitz langsam selbst ein bisschen alt?
Nein, würde ich nicht sagen. Ich glaube, das war eine Nachlässigkeit, vielleicht auch ein bisschen Schlamperei. Ich glaube nicht, dass das was mit Alter zu tun hat, sondern vielleicht eher, dass sich in ihm ein bisschen der zerstreute Professor breitmacht.
Wie sieht er eigentlich Mila Sahin – gibt es da einen Generation Gap?
Ich glaube schon, dass er sieht, dass sie eine andere Herangehensweise hat, aber er nimmt sie sehr ernst als eine willkommene Unterstützung für das Neue, das nach Borowskis Abgang nun kommen wird. Und auf dieses Neue muss er sich ja auch jetzt einstellen. Ich glaube, dass Schladitz eine große Flexibilität besitzt, und er ist einer, der ein gutes Verhältnis zu seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern anstrebt. Er versucht ja auch, die Leute mit Herzenswärme und Offenheit, mit Charme und Humor zusammenzubringen.
Jetzt sind sowohl Sie als Schauspieler als auch Schladitz als Figur die Dienstältesten des Kieler „Tatorts“. Hat auch Sie die Wehmut beschlichen, mit Axel Milberg einen so langjährigen Schauspielpartner verloren zu haben?
Aber ja! Axel und ich haben immer gesagt: „Viele kommen und gehen. Wir bleiben.“ Damit ist es jetzt vorbei. Axel und ich haben uns als Spieler im Grunde blind verstanden. Das ist natürlich wunderbar und ein großer Vorteil. Aber man muss auch aufpassen, nicht in eine Sackgasse zu geraten, sich auszuruhen, sondern immer wieder zu schauen, was Neues entstehen kann. Es sollte nie alles gleichbleiben, im Gegenteil: Alles fließt. Nichts ist festgeschrieben. Und so verändern sich die Figuren und selbst mal die Konstellationen. Das ist schmerzlich, keine Frage. Aber es hat auch etwas Schönes, denn in der ständigen Veränderung liegt auch die Würze.
„Borowski ist der Job meines Lebens. Meine größten Glücksmomente und größten Sorgen vor Scheitern sind mit ihm verbunden“
Gespräch mit Autor Sascha Arango
Der Beginn dieses letzten Borowski-Films ist stark – es gibt eigentlich gar keinen Fall. Der entspringt erst aus Borowskis persönlichem Anteil, als er zufällig das Foto eines Hauses sieht, das er aus seiner Kindheit kennt. Führen Sie uns hier am Ende noch einmal an den Ursprung von Borowskis detektivischem Antrieb?
So ist es, genau. Borowski sieht sich da selber am Zaun stehen, und mit ihm erkennen wir ihn als kleinen Jungen, wie er in das Fenster dieses unheimlichen Hauses guckt, das er jedes Mal auf dem Heimweg von der Schule sieht. Das sind so kleine Momente, die uns in Borowskis Vergangenheit zurückführen. Wir haben in all den Jahren wenig vom Eigenleben der Figur gezeigt. Er ist eher ein Eremit. Gibt man so einer Figur zu viel mit, kann das zu einer Formatbelastung führen. Solche Rückführungen müssen immer in die Handlung eingebunden sein.
Der Medusa-Mythos, der Borowski auf so wunderbare Weise die Idee zur Aufklärung des Falls liefert – was hat Sie an diesem Mythos im Ursprung gereizt, um ihn dann so klug einzubauen?
Der Motor, der Kernantrieb zum Bösen hin ist beim Mörder Robert Frost diese kaputte Beziehung zu seiner Mutter, und Medusa steht ja für diesen schrecklichen, strafenden Blick, bei dem man zu Stein erstarrt. Wir nehmen uns am Beginn einige Zeit, um zu entwickeln, was zwischen Mutter und Sohn vorgeht. Der strafende Blick der Mutter, dieses Thema hat mich mein Leben lang fasziniert. Gleichzeitig steht die Medusa auch für ein Bildmotiv, das sehr stark ist. Also die Medusa mit ihren toxischen Fangarmen – im Spanischen übrigens das Wort für Qualle – stellte für mich die ideale Möglichkeit dar, einen klassischen Mutter-Sohn-Konflikt zu erzählen. Und auch die Auflösung des Falles bleibt dann in der Medusa-Logik.
Robert Frost weist mit seinem sprechenden Namen nicht nur auf die Kälte der Figur, sondern auch auf die Düsterkeit, die mit dem gleichnamigen Dichter assoziiert wird – in der Reihe Ihrer einprägsamen Borowski-Gegenspieler rund um den diabolischen Kai Korthals stellt die Entschlossenheit und Gewalttätigkeit Frosts einen späten Höhepunkt dar …
Frost ist erfüllt von einem enormen unterdrückten Leid. Und tatsächlich ist er Kai Korthals nicht so unähnlich, wie Mörder sich in ihren Motiven alle irgendwie ähneln. Er kann sein Leben nicht leben. Er kann die Frauen durch seine Mutter nicht erreichen und bestraft sie mit ihrer Hilfe. Wer ihn verschmäht, wird vergiftet. Er ist permanent auf der Flucht vor sich selbst, so wie die meisten Mörder. Seine Stärke ist seine Mitleidlosigkeit – auch gegen sich selbst. Ich glaube, das ist etwas, was die Figur besonders auszeichnet: diese Härte gegen sich selbst. Ein Vorbild für die Figur ist der Massenmörder Ed Kemper. Der hat den Kopf seiner Mutter abgeschnitten und auf dem Kamin mit Dartpfeilen beworfen. An allem war immer seine Mutter schuld. Eine hochgradig interessante Figur, die mich sehr zu dieser Geschichte inspiriert hat. Und August Diehl ist natürlich ein Riesengeschenk, besser kann man das ja nicht spielen. Hier zeigen sich auch die großen Vorteile dieser Dramaturgie: Wir erzählen am Anfang scheinbar alles, nur um dann Dinge geschehen zu lassen, die niemand vorhersehen kann. Das sind die Momente, für die ich arbeite. Dass dann Dinge passieren, die der Zuschauer eben nicht wissen kann und daraus sich eine neue Spannung entwickelt.
Auf die Psychologie Robert Frosts bezogen kommt ja ein weiterer mythologischer Bezug hinzu. Schladitz nennt den Fall entsprechend „Ödipus reloaded“. Borowski ist also im letzten Fall von Mythologie umgeben – weil er jetzt selbst zu einer wird?
[Lacht] Da nehmen Sie was vorweg. Darüber habe ich nie nachgedacht – wäre ja wünschenswert, wenn er zu einem Mythos würde … Ginge es allerdings nach mir, würden wir seine Geschichte an anderer Stelle einfach weitererzählen. Ich habe das bei einem Essen nach dem Dreh in Hamburg in einer Abschiedsrede schon gesagt: Das war der Job meines Lebens. Borowski ist der Job meines Lebens. Ich habe die meiste Zeit mit ihm verbracht. Meine größten Glücksmomente und größten Sorgen vor Scheitern sind mit ihm verbunden. Diese 30 Jahre mit ihm stellen sicherlich die wichtigste und einprägsamste Zeit meines Lebens dar.
Zehn der wichtigsten Borowski-„Tatorte“ haben Sie in dieser Zeit geschrieben. Axel Milberg hat einmal im Scherz gesagt, Borowski sei Ihre bessere Hälfte, er könne eigentlich auch Borongo heißen. Was hat Sie am Beginn an der Figur eingenommen? Was hat dazu geführt, dass Sie den Kiel-„Tatort“ derart geprägt haben?
Ich glaube nicht, dass ich ihn so derart geprägt habe. Maßgeblich geprägt hat Axel ihn durch seine Persönlichkeit. Und das war eigentlich auch der Grund, warum ich ganz gut passte: Er ist mir einfach in vielerlei Hinsicht ähnlich. Die Figur, die er kreiert hat, hat so etwas leicht Dandyhaftes, ein bisschen jenseits der Welt an das Gute glaubend, aber gleichzeitig auch nüchtern trocken. Mir gefiel die Figur einfach wahnsinnig gut, und das ist eigentlich alles, was ich brauche: eine Einladung zu einem großen Vergnügen mit einem Schauspieler, zu dem mir was einfällt. Zu Axel fällt mir immer was ein.
Borowski bestehe aus Meinung, Intuition und innerer Stimme, sagten Sie einst. Welche Entwicklung hat die Figur Borowski über 44 Fälle hinweg genommen?
Ich glaube, wir sind gemeinsam älter geworden, das ist einfach ein partieller Verlust und partieller Gewinn gleichermaßen von Lebenserfahrungen. Ich glaube, je älter man wird, desto weniger Worte benötigt man. Im Grunde ist Borowski als Figur relativ konstant geblieben.
Dadurch, dass wir bei Ihren Fällen die Täter von Beginn an kennen, entsteht eine enorme psychologische Tiefe in diesen Figuren. Sind diese Tiefe gemeinsam mit den empathischen Fähigkeiten Borowskis die Grundvoraussetzungen, aus denen Ihre Borowski-Bücher ihre Stärke beziehen?
Das kann man so sehen. Ich glaube, es gibt eine große Skepsis gegenüber dieser Erzählmethode, weil sie natürlich Nachteile hat – so etwa müssen die Polizisten immer dem Zuschauerwissen hinterherrecherchieren. Gleichzeitig entsteht aber, wie Sie sagen, eine ungewöhnliche Tiefe im Charakter und in der Psychologisierung der Figuren, und davon profitiert auch die Kommissarfigur. Klar, diese Suche nach dem Unbekannten hat ihre eigene Spannung, aber ich bin bei jedem Versuch, einen Whodunit zu schreiben, gescheitert, weil mich einfach das Geheimnis weniger interessiert als die direkte Anschauung. Nichts ist so interessant, wie einem Täter dabei zuzuschauen, wie er mit dem umgeht, was er angerichtet hat. Ich finde das viel spannender, als ihn zu suchen.
In dieser offenen Form gesellt sich dann ja noch Borowskis empathische Eigenschaft hinzu, mit der er perfekt an diese Täterpsychologie andocken kann.
Das stimmt, deswegen entsteht immer relativ früh das Gefühl, dass Borowski in die richtige Richtung ermittelt. Das ist ja das Columbo-Prinzip: Columbo kehrt immer und immer wieder zum Haupttäter zurück und zieht niemals irgendwen anders in Betracht. Letztendlich ist das auch eine versteckte Schwäche dieser Dramaturgie, die damit verbunden ist, dass wir dem Zuschauerfokus folgen.
Sie sprachen von der Skepsis gegenüber diesem offenen Erzählprinzip – worauf, glauben Sie, bezieht sich diese Skepsis? Macht einen Krimi am Ende doch aus, als Zuschauer mitzurätseln?
Für viele trifft das zu, ja. Und zum Teil mag das schlicht ein Ergebnis deutscher Sehgewohnheit sein. Aber ich glaube, nicht wenige schätzen die Spannung höher ein, die aus der Frage resultiert „Warum hat er es getan und was ist mit ihm geschehen?“ als jene aus der Frage „Wer war es“. Mein Prinzip ist stets das gleiche: Ich erzähle am Anfang alles, aber jeder, der glaubt, nun alles zu wissen, wird schnell lernen, dass er die wirklich interessanten Dinge erst erfahren wird. Denn es gibt natürlich auch in dieser Dramaturgie eine Wendung, die dem Zuschauer nicht klar sein kann. Und ich glaube, da liegt die wahre Stärke: Alles Spannende, das weiß jeder Drehbuchautor, muss in einem Film in die Mitte, denn da entstehen die großen Längen, da wird eine Geschichte langweilig. Und genau dagegen wirkt meine Methode am allerbesten, indem man in der Mitte einfach den Täter entwickelt. Wir folgen jetzt nicht nur der Suche der Polizei, sondern wir folgen auch dem Täter auf der Flucht vor sich selbst.
Außer diesem Erzählprinzip hatte Ihre Arbeit an Borowski-„Tatorten“ auch jede Menge anderer Besonderheiten parat. Allein bei den Kai-Korthals-Filmen: Da entkommt der Täter, in einem der Filme gab es gar keine Leiche und dann überhaupt das Prinzip der Trilogie – ergründen Sie gerne Grenzen des Formats?
Absolut. Durch seine Popularität hat das Format die niedrigsten künstlerischen Grenzen, sprich: Es herrscht die größte künstlerische Freiheit. Das klingt erstmal absurd, weil es natürlich trotzdem viele Vorgaben gibt und einen Rahmen und große Erwartungen. Gleichzeitig aber kann man künstlerisch wirklich, Pardon, die Sau rauslassen. Das habe ich immer wieder gedurft, ohne Hindernisse durch die Redaktion oder sonst wen. Man kann an die Grenzen und darüber hinaus gehen, und das ist mir das Liebste am „Tatort“.
Auch die teils märchenhaften Elemente, die Einzug in die Borowski-„Tatorte“ halten, sind für ein Krimiformat und dessen vornehmlichen Realismus ungewöhnlich. Dieser Magische Realismus – welchen Stellenwert nimmt er im Borowski-Kosmos ein?
Ich glaube, dass er uns die Möglichkeit gibt, immer wieder innezuhalten und Momente der Innerlichkeit nach außen zu bringen. Also gefühlte, gedachte Momente zu bebildern, Dinge zu sagen oder zu tun, die wir im nächsten Bild wieder zurücknehmen. Das mache ich relativ oft. Und dann gibt es Dinge, die wir nicht zurücknehmen, die stehenbleiben. Ich saß mal im Wartezimmer eines Zahnarztes und blätterte in einer Motorsport-Fachzeitschrift und plötzlich: in der Mitte eine Doppelseite mit dem Bild von Borowski, der seinen Passat erschießt. Die künstlerische Freiheit, solche bleibenden Momente zu schaffen, gibt’s in keinem anderen Format.
Und die Trilogie um diesen unheimlichen Mörder Kai Korthals, der im ersten Teil einfach entkommt?
Das war so nicht geplant. Aber als ich damals zum ersten Mal von nahem gesehen habe, was Lars Eidinger für ein Schauspieler ist, hat mich das dazu gebracht, das Ende umzuschreiben und ihn buchstäblich in der letzten Minute entkommen zu lassen. Es war ein Paukenschlag – der Sender hat ziemlich viel Post bekommen. Da war klar, wir machen einen zweiten, der mir auch gut von der Hand ging. Der dritte Film hingegen benötigte dann nochmal einen ziemlich langen inneren Prozess.
Wie ist es für einen Autor, das Ende einer Figur zu schreiben, die ihn so lange begleitet hat?
Schrecklich. Ich habe geheult. Ich fand es furchtbar. Ich wollte diese Figur. Ich wollte nicht, dass sie weggeht. Das war für mich ein kleiner Tod.
Wie sind Sie das trotzdem angegangen?
Durch vorsichtiges Herantasten. Mein erster Impuls war: Okay, er bekommt einen ganz großen Abgang, ein Riesending, granatenmäßig. Ich habe mich dann mal so umgeschaut, wie das woanders gelöst wurde – Explosionen, Selbstmord, all diese Sachen. Und dann dachte ich mir: Wie wäre es denn damit, ganz normal heroisch in Rente zu gehen und das dann aber zum Thema zu machen? Und so ist der Film auch geworden: Wir machen aus diesem schrecklichen Umstand, dass er jetzt aufhören wird, einen Teil der Geschichte. Und es endet ja trotzdem mit einem Knall …
„Diese grundsätzlich andere Dramaturgie von Sascha Arango und diese vollkommen eigene Spielweise von Axel haben den Kieler ‚Tatort‘ geprägt“
Gespräch mit Regisseur Lars Kraume
Sie haben zuvor schon einen Borowski-„Tatort“ gedreht – was hat für Sie diesen Kiealer Krimi ausgemacht im großen „Tatort“-Kosmos?
Axel Milberg. Er war der große Unterschied, weil er mit seiner Spielweise und seiner Figurenfindung einfach eine ganz eigene Farbe in dieses Format gebracht hat. Es hängt alles immer an ihm – vielleicht noch gepaart mit Sascha Arango als Autor. Es waren im schleswig-holsteinischen Nebel verhangene, leicht skurrilere Geschichten als vielleicht andernorts im „Tatort“, oft versehen mit dem dramaturgischen Trick der offenen Erzählung des Mordfalls. Diese beiden Aspekte, also diese grundsätzlich andere Dramaturgie von Sascha Arango und diese vollkommen eigene Spielweise von Axel, haben den Kieler „Tatort“ geprägt.
Sie haben im Zusammenhang mit Ihrem ersten Borowski-„Tatort“ mal gesagt, die Borowski-„Tatorte“ seien mit ihrem Märchenhaften „bigger than life“. Inwiefern trifft das bei diesem letzten ebenfalls zu?
Liest man das Drehbuch zu „Borowski und das Haupt der Medusa“, dann stellt sich sofort das Gefühl ein, man sei halb in einem Märchen, halb in einem 50er Jahre-Hollywood-Horrorfilm mit Anleihen von Hitchcock in Form dieser bösen Mutter. Dazu dieses Gespensterhaus, diese bedrückende Umgebung – allein das Haupt der Medusa selber ist natürlich als titelgebendes Motiv in dem Film schon bigger than life.
So ein Antagonist wie Robert Frost, der nur wenig Dialoge hat, aber sehr viele ausdruckstarke Momente: Ist das für einen Regisseur besonders dankbar? Wie haben Sie sich den erarbeitet?
Da gibt es als Regisseur nur eine Sache zu machen: den August dazu bekommen, das zu spielen. August Diehl ist der Schauspieler seiner Generation, den ich am allermeisten bewundere und dem ich am liebsten zuschaue. Und wenn man den August dann seine Ideen einbringen lässt, dann entsteht aus dem Papier diese Figur. Das geht bei der Kostümprobe los. Wir sprechen so ein bisschen über die Figur und über die Locations, und August kann sich das sofort vorstellen und zieht aus einem Berg Mützen dann gleich diese eine Mütze raus, die perfekt ist.
Stark inszeniert finde ich die Sequenz, in der Frost und Borowski in diesem unheimlichen Haus umeinander herumschleichen. Borowski taucht da komplett in die Atmosphäre dieses Hauses ein. Wie ist diese Intensität entstanden?
Wichtig war erstmal, mit der Szenenbildnerin Zazie Knepper ein geeignetes Haus wie dieses zu finden. Das Haus ist einfach eine super Bühne, weil es eine gute Mischung hat. Einerseits kennt man diese Architektur und die Möblierung noch sehr gut aus den 1980ern. Damit hat das Haus durchaus etwas Realistisches. Aber auf der anderen Seite wirkt es wie ein Märchenschloss, versponnen und vergessen. Wenn diese Umgebung erstmal derart perfekt stimmt, dann braucht man mit Axel und August dieses Schloss nur noch zu bespielen.
Ein bedrohlicher Grundton, dazu wabernde E-Sounds und singende Klänge: Was ist das für eine Musik, die so ein bisschen an einen „Haunted House“-Soundtrack erinnert?
Die Musik stammt von Dorit Chrysler, eine der wenigen großartigen Theremin-Spielerinnen auf der Welt. Das Theremin ist ein elektrisches Musikinstrument, das 1920 erfunden wurde und das mittels Radiowellen berührungslos gespielt wird. Durch Bewegungen bestimmt die eine Hand die Tonhöhe, die andere die Lautstärke. Das Theremin hat man zum Beispiel in den 1950er Jahren im Science-Fiction-Film eingesetzt als Ursprung für diese bekannten Töne landender UFOs. Das Theremin ist ein bisschen in Vergessenheit geraten, weil man heutzutage diese Art von Sounds ganz anders herstellt – aber das Original ist unerreicht.
Spannend umgesetzt ist auch der Schlüsselmoment rund um Robert Frost und seine Mutter: schreiende Neonfarben, Schwarzlichteffekte, irgendwie Jenseitiges. Wie haben Sie und Ihr Director of Photography, Jens Harant, das umgesetzt?
Diese Szene erklärt in einem herausgestellten Moment die Vergangenheit der beiden. Die Idee war, das Gespenstische daran zu unterstreichen, und so haben wir zwei Dinge getan: Wir haben mit Schwarzlicht gearbeitet und wir haben einen alten Trick aus der Stummfilmzeit eingesetzt. In „Nosferatu“ ist das zum Beispiel gemacht worden: Der Schauspieler spielt eine Szene rückwärts, die man anschließend andersherum ablaufen lässt. Dadurch, dass man sich rückwärts eben anders bewegt, sieht es vorwärts abgespielt sehr eigenartig aus. Und so hat es Corinna Kirchhoff in dieser Szene auch gemacht, weshalb es so entrückt wirkt und man für einen kurzen Moment denkt: Schwebt sie?
Dieses Haus ist stark über Sounds erzählt, die alten Uhren, der alte Drehschalter, das Knarzen, dazu diese pathologische Ordnung. Was symbolisiert dieses Haus, das ja auch mit Borowski verknüpft ist?
Ja, genau. Deswegen ist es so schön, dass dies das Setting für den letzten Borowski-Film darstellt. Der Kieler „Tatort“ baut ja auch darauf auf, dass Kiel die Heimatstadt von Axel Milberg ist. Dieser Stadtteil Düsternbrook, wo eben diese Art von Villen steht und das gutbürgerliche Leben in Kiel stattfindet – das kennt Axel alles. Und wenn er dann als Borowski spielt, dass er das Haus aus der Kindheit kennt, dann ist das persönlicher, als man sich das für so einen „Tatort“ vielleicht denkt. Das berührt über die reine Krimigeschichte hinaus eben auch eine andere Ebene: wie der Schauspieler Axel Milberg seine Ideen für den Borowski grundsätzlich gedacht hat, nämlich als Erinnerung an seine Herkunft in Kiel.
Wie war die Stimmung am Set dieses letzten Borowski-Krimis, hat sich ein bisschen Nostalgie eingeschlichen? Ich finde, gerade die Dreierbeziehung aus Sahin, Borowski und Schladitz ist nochmal mit besonderer Wärme gezeichnet.
Axel Milberg war erstaunlich gefasst. Er wollte nicht, dass das alles in so einer Sentimentalität erstickt. Er wollte einen guten Film machen. Er hat sich gefreut, dass wir nach 13 Jahren noch mal einen „Tatort“ gemeinsam drehen, und so hatten wir alle irgendwie großen Spaß – der herrschte auch zwischen den dreien. Wenn der Thomas Kügel spielt, wie sehr ihn Borowskis Abschied rührt: Das ist wahnsinnig süß und kommt natürlich auch sehr von den Schauspielern, die zusammen solange diese Figuren gespielt haben.
Mit einer Doppelfolge gestalten Sie auch die neue Konstellation des Kieler „Tatorts“. Inwiefern wird sich mit dem neuen Duo Almila Bagriacik und Katharina Schuch auch der Grundcharakter des Kiel-„Tatorts“ verändern?
Blickt man mal zurück in diese verrückte „Tatort“-Geschichte mit all den Kommissaren, die es da gab, dann finde ich: Das prägendste Element für diese jeweiligen Reihen sind die Schauspielerinnen und Schauspieler, die diese Figuren spielen. Was wäre der Schimanski ohne Götz George? Kann man sich kaum vorstellen. Bei Axel war es eben dieses Etwas seiner Spielweise. Dieses Nachdenkliche, Raunende, wie er um die Ecken schleicht und den Mörder sucht. Das hat die Borowski-„Tatorte“ geprägt. Almila hat als Mila einen völlig anderen Auftritt. Sie wird diese Reihe ganz stark prägen, gemeinsam mit Karoline Schuch, die noch mal eine sehr spezielle Figur spielt. Ich finde die Farbe, die aus diesem Duo entstehen wird, richtig stark. Und sie wird ganz anders sein als bisher.
„Axel Milberg war über 23 Jahre das Alpha und das Omega des Kieler ‚Tatortes‘. Ihm gebührt unser großer Dank“
Gespräch mit Sabine Holtgreve (NDR Redakteurin)
Welche Momente rund um den Kiel-„Tatort“ haben Dich als Redakteurin am meisten geprägt?
Die Begegnungen mit den Fans und die große Zuneigung, die uns bei dem Kieler „Tatort“ immer wieder begegnet, sind ein wichtiger Ansporn für mich. Bei einer Preview in Kiel 2023 trafen wir auf Vater und Sohn, die den „Braunen“ erstanden hatten: den Original-Passat, den Borowski 2012 in „Borowski und der stille Gast“ (Drehbuch: Sascha Arango) erschossen hatte. Die beiden Schleswig-Holsteiner haben den Wagen gerettet und sind zur Premiere nach Kiel gereist, um Axel Milberg davon zu erzählen. Einer von vielen besonderen Momenten, in denen man als NDR Redakteurin spürt, dass es ein Publikum gibt, dass die Kommissar*innen und ihren „Tatort“ liebt. Für sie arbeiten wir.
Es gab Momente, in denen gesellschaftliche Debatten angestoßen wurden, die sich beinahe verselbstständigt haben. Beim „Tatort: Borowski und das verlorene Mädchen“ hat der NDR 2016 unter der Regie von Raymond Ley einen Fall über eine junge Konvertitin erzählt, angeregt durch eine Recherche der „Panaroma“-Autorin Britta von der Heide. In der nachfolgenden „Anne-Will“-Sendung trat eine vollverschleierte Schweizerin auf und löste mit ihren selbstbewussten Thesen einen kleinen Skandal aus. Die Moderatorin wurde vor den Rundfunkrat geladen. Der Abend löste eine Debatte aus über die Notwendigkeit der Begrenzung der Religionsfreiheit in Deutschland. Ein Effekt, den wir nicht vorhergesehen hatten, der deutlich macht, dass man Themen setzen kann, aber nicht vorwegnehmen, in welche Richtung diese Debatten geführt werden.
Welchen Anteil hat für Dich Axel Milberg an dem Erfolg?
Axel Milberg war über 23 Jahre das Alpha und das Omega des Kieler „Tatortes“. Ihm gebührt unser großer Dank. Als Schauspieler hat er die Reihe geprägt: Die Figur, die er - zusammen mit seinem kongenialen Autor Sascha Arango - erschaffen hat und die viele herausragende Regisseurinnen und Regisseure begleitet haben wie Ilker Catak, Andreas Kleinert, Friederike Jehn, Maria Solrun oder Lars Kraume, ist ein Solitär. Milberg hat seinen Borowski als wortkargen, humorvollen, leicht neurotischen Weltenwandler angelegt. Seine Könnerschaft zeigt sich im letzten „Tatort“ besonders schön; sein Borowski braucht nicht immer den Dialog, um zu glänzen, er lebt durch Blicke und seine fast tänzelnde Slapstick-Kunst. Im vorliegenden „Tatort“ sehen wir, wie Borowski altersgerecht über einen Gartenzaun klettert, und das erinnert an die großen Begabungen der angelsächsischen Komödie wie Rowan Atkinson oder John Cleese.
Aber zu dem genialen Einzelgänger gehört seit 2017 mit Mila Sahin eine Frau, die Borowski wunderbar ergänzt. Almila Bagriacik spielt sie als moderne Frau mit einer tiefen Seele. Eine Figur mit Coolness und Wärme. Wir freuen uns, dass der Kieler „Tatort“ ab 2026 mit Almila Bagriacik und ihrer neuen Kollegin Karoline Schuch weitergeht.
„In all den folgenden Jahren ist Großartiges entstanden“
Statement von Kerstin Ramcke (Produzentin, Nordfilm)
Ich hatte als Produzentin das große Glück, Axel Milberg und seine Figur Borowski von Beginn an begleiten zu dürfen. Und zwar nicht nur über die 44 „Tatorte“, sondern auch seinen allerersten Auftritt. Für die Reihe „Stahlnetz“, deren Konzept vorsah, dass in jeder Folge andere Ermittler*innen die Fälle lösten, sollte Axel Milberg in der Episode „PSI“ 2002 einen Kommissar spielen. Der Autor Markus Stromiedel erfand für ihn Klaus Borowski. Die Anlage der Figur hat allen gefallen, und so wurde beschlossen, sie von Hannover nach Kiel zu „versetzen“. 25 Jahre nach Kommissar Finke wollte der NDR ab 2003 im „Tatort“ endlich wieder Schleswig-Holstein bespielen – mit Axel Milberg als gebürtigem Kieler wurde die einmalig erprobte Figur entsprechend weiterentwickelt.
In all den folgenden Jahren ist Großartiges entstanden: In besonderer Erinnerung wird immer Sascha Arangos Trilogie mit Lars Eidinger als Kai Korthals bleiben – eine außergewöhnliche Konzeption mit drei herausragenden Filmen. Überhaupt ist die Zusammenarbeit mit Sascha Arango eine Besonderheit – auch, weil er alle Fälle offen erzählt, was für einen „Tatort“, in der Regel als Whodunit gestaltet, eher ungewöhnlich ist. Als Geschenk habe ich persönlich auch die Zusammenarbeit mit Henning Mankell empfunden, der dank Axel Milbergs Vermittlung Vorlagen zu drei Filmen geschrieben hat. Wir waren an zahllosen spannenden Drehorten in Schleswig-Holstein, wir haben die Achse nach Skandinavien gepflegt und in Dänemark und Finnland gedreht: Borowski hat uns ein großes Füllhorn an besonderen Momenten beschert, auf das wir mit großer Dankbarkeit schauen.
Es war eine enorme Freude, mit jemandem wie Axel Milberg eine solch lange Zeit in einer Reihe so stabil zusammenzuarbeiten und dabei so viele großartige Menschen mitzunehmen. Das ist nämlich ebenfalls ein Geschenk: Egal, wen wir für die kreativen Gewerke anfragten, alle haben immer sofort zugesagt. Das hat ganz viel auch mit der Person Axel Milberg zu tun. Kieler „Tatort“ – das war und ist für alle immer etwas Besonderes. Dafür kann ich mich nur bedanken.
Nach „Borowski und das Haupt der Medusa“ wird Axel nun den Staffelstab des Kieler Tatorts weitergeben an Almila Bagriacik und an Karoline Schuch – die erste Doppelfolge ist bereits abgedreht. Wir alle arbeiten zusammen mit enormer Lust daran, Kiel für die „Tatort“-Reihe auch weiterhin als das Nordlicht zu gestalten, das für Besonderes steht.
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