Tatort: Schweigen

AM 1. DEZEMBER, 20.15 UHR, IM ERSTEN
DANACH IN DER ARD MEDIATHEK

Inhalt

Thorsten Falke verbringt nach dem Tod seiner Kollegin Grosz eine Auszeit im abgelegenen Kloster St. Joseph, als der Pastor der Gemeinde bei einem Brand ums Leben kommt. In dessen Nachlass findet sich kinderpornographisches Material, was Falke und seine Kollegin vor Ort, Eve Pötter, in dem Verdacht bestätigt, dass der Brand absichtlich gelegt worden sein könnte. 

Besetzung

Thorsten Falke
Wotan Wilke Möhring

Eve Pötter
Lena Lauzemis

Bruder Jonas
Falilou Seck

Lukas
Jakob Kraume

Pastor Otto
Hannes Hellmann

Daniel Weinert
Florian Lukas

Domvikar Billing
Sebastian Blomberg

Polizeihauptmeister Schültke
Michael Del Coco

LKA-Beamtin Schwerdtfeger
Julia Jendrossek

u. v. m.

Stab

Regie
Lars Kraume

Buch
Stefan Dähnert        

Kamera
Anne Bolick

Schnitt
Stefan Blau

Kostümbild
Bettina Weiß

Maskenbild
Diana Badalova

Casting
Nessie Nesslauer

Szenenbild
Ina Timmerberg

Ton
Siegfried Fischer

Musik
Christoph Kaiser, Julian Maas

Produktionsleitung
Ulrike Zirzow (Nordfilm GmbH) und Daniel Buresch (NDR)

Herstellungsleitung
Marcus Kreuz (Nordfilm GmbH)

Produzentinnen
Katinka Seidt, Kerstin Ramcke

Redaktion
Christian Granderath, Patrick Poch

Drehzeit
19.09.2023 – 20.10.2023

Länge
89:21 Minuten

Drehorte
Heimbach und Umgebung

Der „Tatort: Schweigen“ ist eine Produktion der Nordfilm GmbH im Auftrag des Norddeutschen Rundfunks für Das Erste. 

Der NDR „Tatort: Schweigen“ auch als Audio-Podcast in der ARD Audiothek!

Begleitend zum Krimi gibt es die neue „Tatort“-Folge auch als Hörfassung – z. B. für unterwegs. Mit den Original-Stimmen aller Schauspielerinnen und Schauspieler sowie einer Erzählstimme, die durch die Handlung der Geschichte führt, wird aus dem Fernsehkrimi auch ein Hörgenuss. Die 90-minutige Hörfilmfassung steht begleitend zur Erstausstrahlung im Fernsehen ab dem 1. Dezember 2024 in der ARD Audiothek zum Streaming und Download bereit.

„Leider ist sehr viel wahr an der Geschichte“ 

Gespräch mit Drehbuchautor Stefan Dähnert über Kindesmissbrauch in der Katholischen Kirche, das System des Schweigens und Kommissar Falke als Prediger 

Es ist das erste Mal, dass ein „Tatort“ vom Kindesmissbrauch in der Kirche erzählt. Wer gab den Anstoß dazu? 
Christian Granderath, der Fernsehfilmchef des NDR, fand es unfassbar, dass eines der größten Serienverbrechen der letzten Jahrzehnte vom „Tatort“ bisher verschont geblieben ist. Daraufhin fing ich an zu recherchieren. Dann kam ein aktueller Fall dazu, der derzeit bei der Staatsanwaltschaft Saarbrücken anhängig ist. 

Worum geht es in dem Fall?   
Ein Polizeibeamter hatte im Haus seines verstorbenen Onkels nach dessen Geburtsurkunde gesucht für die Beerdigung - und kinderpornografisches Material gefunden. Der Priester aus dem Bistum Trier hatte Tausende Fotos und Dias. Vermutlich wurden diese Fotos in bestimmten Kreisen rumgereicht. Man dachte ja, man hat schon alles über den Missbrauch in der Katholischen Kirche erfahren. Aber dass es Priester gab, die Kinder untereinander geteilt haben, das wurde uns hier erst klar. Patrick Poch, unser Redakteur, hat sich sehr intensiv mit dem Fall beschäftigt und Kontakt zu Lars Hennemann aufgenommen, dem Chefredakteur der „Rhein-Zeitung“, die als Erstes über den Fall berichtete. Und so kam immer mehr heraus. Patricks Recherche war praktisch die Blaupause für mein Drehbuch. Ich habe dann bei der Staatsanwaltschaft nachgefragt: Wenn wir behaupten, es hat in der Katholischen Kirche einen Pädophilen-Ring gegeben, kriegen wir dann Ärger? Die Antwort lautete: nein. Leider ist sehr viel wahr an unserer Geschichte. 

Hat sich die Kirche an der Aufklärung beteiligt?  
Im vorliegenden Fall hat der Trierer Bischof den Neffen gewarnt, lieber zu schweigen und sich selbst nicht strafbar zu machen – durch den Besitz kinderpornografischen Materials. Das war entweder irre naiv oder zynisch. Auf jeden Fall macht es das System des Schweigens deutlich: Man hält die Klappe, weil man selber mit drinhängt. Das war für mich wirklich neu. 

Haben Sie den Stoff originär für den „Tatort“ mit Kommissar Falke entwickelt?  
Ja. Es gibt wohl keinen anderen ermittelnden Kommissar der ARD, dem Glaubensdinge ferner lägen als Falke. Das war ausschlaggebend.   

Es ist Falkes erster Fall nach dem gewaltsamen Tod seiner Partnerin. In welchem psychischen Zustand finden wir ihn vor in diesem katholischen Kloster? 
Zuerst wollten wir Falke am Boden zerstört zeigen. Aber dann kamen wir drauf, dass es wichtig ist, mittels seiner Genesung zu erzählen, welche Bedeutung Kirche heute noch hat, wenn sie an bestimmten sensiblen Punkten in unserem Leben Hilfe bietet, uns wieder aufhilft und Orientierung gibt.  

Sehen wir Falke zu Beginn anders als in früheren Folgen: entsetzt, sprachlos, erschüttert angesichts dieser schrecklichen Verbrechen?  
Falke ist zunächst als Zivilist zu sehen, der freiwillig im Kloster ist. Dann wird er als Polizist gefordert, macht seine Arbeit und versucht einfach, diesen Fall zu lösen. Aber irgendwann kommt er heraus aus dieser neutralen Position und stößt an seine mentalen Grenzen. Das ist das Besondere. Das, was da geschieht, ist auch schwer zu verstehen und noch schwerer zu ertragen. Ob er ein Gefühlsmensch ist? Ich würde ihn ungern so sehen.

 

 

Mir gefällt seine raue Schale, die hier sukzessive aufgebrochen wird. Das Tröstliche ist: Falke ist nicht allein. Die Freundschaft zu Daniel, den Florian Lukas so wunderbar spielt, macht Spaß. Dass dieser Freund ausgerechnet eines der Opfer ist, ist unser dramatischer Hebel.  

Erzählen Sie einen Klosterthriller? 
Das war es tatsächlich, was wir uns anfangs gewünscht haben. Aber dann kamen bei der Recherche immer mehr unerträgliche Tatsachen zutage, dass ich irgendwann mein Drehbuchhandwerk einfach liegen ließ und nur noch versucht habe, die Erkenntnisse möglichst nüchtern für sich sprechen zu lassen. Und dann zu gucken, wie es wirkt, wenn so langsam durchsickert, in welchen Dimensionen wir uns hier bewegen.  

In einer Szene liest Falke der Kirche die Leviten und spricht wie ein Prediger von der Kanzel herab. 
Mir hat die Szene sehr gut gefallen. Da haben der Regisseur Lars Kraume und Wotan Wilke Möhring Großartiges geleistet. Wir waren ja alle sprachlos von den Ergebnissen der Recherche. Dann Falke loszulassen, der das Maul aufreißt, hat Wotan Spaß gemacht und nützte auch unserer seelischen Hygiene. 

Falkes Gegenspieler ist der Generalvikar. Er schützt die Institution der Kirche, stellt sich aber intern gegen die Täter. Wofür steht diese Figur? 
Der Generalvikar steht pars pro toto für die guten Leute in der Kirche, die fortwährend in einem schlimmen Loyalitätskonflikt stehen. An diesem irren Konflikt würde ich auch verzweifeln. Man muss ja wissen: Als katholischer Priester hat man nur einen Arbeitgeber. Man kann ja nicht einfach zu evangelischen Konkurrenz wechseln. 

Worauf kam es Ihnen an in der Darstellung der Opfer?  
Da habe ich echt dazu gelernt. Zum Bespiel, dass sich Betroffene nicht selbst als „Opfer“ bezeichnen. Ihnen ist etwas widerfahren, was jedem von uns hätte passieren können. Auch die Vorstellung, dass Opfer zwangsläufig zu Tätern werden, hinterfragt dieser Film kritisch. Ich habe mittlerweile eine sehr hohe Meinung von denjenigen, die sich trauen, offen darüber zu sprechen, was ihnen widerfahren ist. Ich finde Verdrängung nachvollziehbar, wenn auch nicht gesund. Die Scham, nicht darüber reden zu können, aus Angst, in unserer Leistungswelt als Looser abqualifiziert zu werden, ist auch gesellschaftlich von Bedeutung. 

Wie erklären Sie sich solche Verbrechen? Trägt das Zölibat eine Mitschuld?  
Ich glaube, man macht es sich zu einfach, wenn man sagt, durch die Enthaltsamkeit stauen sich so viele sexuelle Triebe auf, die müssen einfach mal raus. Ich glaube vielmehr, dass Menschen mit pädophiler Neigung sich bewusst in den Zölibat begeben, um ihre Sexualität in den Griff zu bekommen. Dieses Grundübel macht die Katholische Kirche zu einem Sammelbecken von Menschen, die Probleme mit ihrer Sexualität haben.   

Wie halten Sie es mit der Kirche?  
Ich bin ökumenisch sozialisiert worden. Lars ist Katholik. Für uns beide gehört die Kirche zum täglichen Leben. Das macht die Sache nicht einfacher. 

„Wir halten die Debatte am Leben, dass großes Unrecht noch nicht ausgeräumt ist“ 

Regisseur Lars Kraume über die Inspiration des Drehorts, seine gradlinige Inszenierung und warum ihn die Missbrauchsfälle nicht zum Kirchenaustritt bringen  

Haben Sie lange nach einem Kloster als Drehort suchen müssen? 
Viele Klöster, die wir uns angeschaut haben, wollten mit dem Thema nicht in Verbindung gebracht werden. Dann entdeckte unsere Szenenbildnerin Ina Timmerberg das leerstehende Trappisten-Kloster Heimbach. Zu unserem Glück sagte das katholische Bistum zu: Ihr könnt‘ eure Geschichte dort erzählen. Die Trappisten sind ein Schweigeorden mit akuten Nachwuchsproblemen. Ihr Kloster war noch vollkommen ausgestattet. Man hatte das Gefühl, die letzten Ordensbrüder wären gerade erst ausgezogen. Ich betrachte die Zusage als Zeichen der Katholischen Kirche, sich der Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels nicht in den Weg stellen zu wollen. Der Ort war eine große Inspiration für uns. Stefan Dähnert hat noch einmal am Drehbuch gefeilt, damit die Geschichte genau in dieses Motiv hineinpasst.  

Wollten Sie einen Klosterthriller drehen? Tatsächlich ist „Der Name der Rose“ ein bisschen Vorbild gewesen. Die geschlossene Gemeinschaft, in der die Verbrechen stattfinden, das Schweigen der Ordensbrüder: Das ist schon die Idee des Films.  

Ihr Film zeigt weder die Verbrechen noch die Beweise der Verbrechen. Woran liegt das? 
Es war uns ganz wichtig, dass man in der Ermittlungsarbeit die belastenden Beweise nicht sehen darf. Weil man ansonsten die sexualisierte Gewalt an den Kindern, die auf Fotos festgehaltenen pornografischen Darstellungen, reproduziert und damit wieder neues Material für entsprechende Menschen herstellt. Wie schrecklich die Taten sind, spiegelt sich in den Gesichtern der Ermittler, die das Material sichten. 

Man hat Wotan Wilke Möhring als Kommissar Falke selten so sprachlos gesehen. 
Es war meine erste Zusammenarbeit mit Wotan. Man denkt oft, dass er so ein lockerer und kumpelhafter Typ ist. Umso mehr war ich begeistert von seiner Konzentration und Ernsthaftigkeit. Natürlich findet er im Verlauf des Films seine Sprache zurück: Falke wird zum säkularen Prediger gegen den Missbrauch in der Kirche und führt seinen eigenen Kreuzzug. 

Haben Sie mit Florian Lukas lange darüber gesprochen, wie er das Opfer eines Missbrauchs spielen soll? 
Das war nicht nötig. Florian war der erste professionelle Schauspieler, mit dem ich an der Filmhochschule vor rund 30 Jahren gearbeitet habe. Weil wir schon so viele Filme zusammen gemacht haben, weiß ich genau, wie gewissenhaft sich Florian auf seine Rollen vorbereitet. Er spielt im Kern einen Mann, dem als Kind Traumatisches zugefügt wurde. Die Zeit vergeht, aber er verharrt an dieser einen Stelle seines Lebens. Florian ist eine geniale Besetzung, weil man immer noch diesen Jungen in ihm sieht. Er hat die Rolle wahnsinnig toll gespielt.  

Hat beim Drehen manchmal eine beklemmende Stimmung geherrscht? 
Jede Geschichte strahlt immer ein bisschen auf die Stimmung am Set aus. Man steht in der Klosterkirche und dreht irgendwelche Szenen, das ist zum Teil nur ein technischer Prozess. Aber ich bin katholisch, und ich betrete keine Kirche, ohne mich zu bekreuzigen. Dementsprechend ist das Kloster für mich ein anderer Schauplatz als ein Fußballfeld.  

Sind Sie Kirchgänger? 
Gelegentlich. Und wenn Sie mich fragen, nein, ich werde nicht aus der Kirche austreten. Ich werde auch nicht Anti-Demokrat, nur weil ich weiß, dass im Namen der Demokratie Kriege geführt werden. Wir müssen überall dafür kämpfen, das Gerechtigkeit entsteht. Aber einfach die Institution zu verlassen, halte ich nicht für den richtigen Umgang. Diese Missbrauchstaten haben bevorteilt durch das System der Kirche stattgefunden. Man muss die Verbrechen aufklären und verhindern, dass weitere geschehen. Das ist die dringliche Aufgabe, und deshalb lässt sich der Widerspruch aushalten: Ich kann Katholik sein und einen Film über diese Verbrechen drehen.  

Welche Reaktionen der Kirche erwarten Sie auf Ihren Film? 
Eine weiterhin notwendige und anhaltende Diskussion über die Verbrechen, die in der Kirche verübt wurden.  

Haben Sie in Ihrem Film eine möglichst realistische Erzählweise angestrebt? 
Die Frage, wie hier Gerechtigkeit in die Welt kommt, macht unsere Erzählung zugleich kompliziert und interessant. Wir wollen mit unserem Film ja nicht die Opfer aufrufen: Nehmt‘ euch eine Waffe und erschießt‘ die Pfarrer! Das wäre vielleicht die Dramaturgie eines Rachethrillers. Ich habe stattdessen versucht, mich an der Realität zu orientieren, in der Rache als Motiv nicht vorkommt, um die Geschichte möglichst genau, einfach und gerade zu inszenieren. 

Haben Sie eine Verantwortung gegenüber den Betroffenen gespürt, die ja auch zuschauen werden? 
Es sind so viele Menschen von diesen Ereignissen betroffen. Nicht nur die Opfer und Täter, sondern auch die vielen anderen, die für ihre Mitgliedschaft in der Katholischen Kirche in Haftung genommen werden. Und dann kommen wir Filmemacher daher und greifen die Verbrechen für einen 90-minütigen Primetime-Krimi auf. Es ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits ist es fast zu profan, weil es der Komplexität der Wirklichkeit niemals gerecht werden kann. Andererseits erreichen wir viele Millionen Zuschauer und halten die Debatte am Leben, dass hier großes Unrecht noch nicht ausgeräumt ist und man weiter im Blick behalten muss, dass Kinder den sexuellen Übergriffen von Erwachsenen ausgesetzt sind. Es ist richtig, den Film zu machen.   

„Ähnlich wie Falke bin ich ohne Kirche aufgewachsen“ 

Gespräch mit Wotan Wilke Möhring über Falkes Auszeit im Kloster, über den hoch emotionalen „Tatort“
und sein persönliches Verhältnis zum Glauben

Der Schock sitzt tief bei Thorsten Falke. Der plötzliche Tod seiner Kollegin Julia Grosz hat ihn aus der Bahn geworfen, an Ermittlungsarbeit war erstmal nicht zu denken. Im Kloster St. Joseph versucht Falke, wieder zu sich selbst zu finden. Gläubig ist er nicht, aber die rituell-routinierte Tätigkeit soll es richten. Bei der Apfelernte helfen, die Messe besuchen, einfache Unterkunft und am Ende eine Bescheinigung – so will Falke seine Dienstfähigkeit wiederherstellen. Sogar einen Freund findet Falke, den labilen Daniel, der sich von zahllosen Rückschlägen im Kloster erholt, aber leider keinen Schnaps mag. Womit Falke nicht gerechnet hat: Das Böse macht auch vor den Klostermauern nicht Halt. Pastor Otto, Trainer einer Jungen-Fußballmannschaft, verbrennt in einem Wohnwagen im Klosterhof.

Sofort setzt unwillkürlich Falkes Profimodus ein. Er betrachtet argwöhnisch die schlampig arbeitende Feuerwehr und findet, als er in Ottos Büro nach seinem zugesagten Entlassungsschreiben sucht, einen Keller voller erschütternder Beweise: Otto war ein krimineller Pädophiler.  Bisher war „Sympathy for the Devil” nur Falkes Klingelton, jetzt droht es zu einem echten Gefühl zu werden. Den Kirchenvertretern scheint ihre Institution wichtiger zu sein als die geschundenen Seelen der Opfer. Falke kommt an seine Grenzen. Nach der Sichtung von Hunderten Fotos kann er nicht mehr, eine Kollegin übernimmt. Die Regeneration ist zum Teufel. Aber schneller als die Verzweiflung ist der Zorn gewachsen. Und Zorn war schon immer Falkes stärkster Antrieb. 

Nach dem Tod seiner Partnerin hat sich Kommissar Falke in ein Kloster zurückgezogen. Ist seine Psyche angeknackst? 
Falke war nicht vor Ort, als sie starb. Er ist zu spät gekommen. Diese Gedanken lassen ihn nicht los. Sie gehen mit Selbstvorwürfen einher und mit Fragen nach dem Beruf an sich: Nützt es überhaupt jemandem, was ich hier tue? Um zur Ruhe zu kommen, wird er von oben angewiesen, sich in einem Kloster eine Arbeitsauszeit zu nehmen. Falke sucht im Kloster nicht die Nähe zu Gott, sondern einfach Abstand. Die einfachen Arbeiten im Klostergarten tun ihm tatsächlich gut. Hier fragt ihn keiner, woher kommst du, was machst du, warum bist du hier? 

Wie steht Falke zur Kirche? 
Als Arbeiterkind hat er nie etwas mit ihr zu tun gehabt. Die Kirche zuhause war die Gewerkschaft. Seine Erlebnisse im Kloster machen es noch einmal schwieriger, sich mit der Kirche anzufreunden.  

Geht er noch mehr auf Distanz? 
Er ist entsetzt darüber, dass eine Institution, an die man sich wendet, wenn es einem schlecht geht, ihre Macht so fürchterlich missbraucht. Und sich an den Schwächsten der Schwachen vergeht. Es sind für ihn unfassbare Verbrechen, die man von vorne bis hinten aufklären und aufarbeiten muss. 

Wie ist Ihr persönliches Verhältnis zur Kirche? 
Ähnlich wie Falke bin ich ohne Kirche aufgewachsen und die Kirche als Institution brauche ich nicht. Als Besucher mag ich die Stille und Kühle von Kirchen, besonders in südlichen Ländern wie Spanien. Wenn in den sakralen Bauten das Gold und die Opulenz dominieren, dann ahne ich, dass es hier wahrscheinlich nicht nur um Glauben ging. Ich verstehe aber, dass es Glauben gibt. Wir brauchen den Glauben, um mit Dingen in der Welt klarzukommen, die wir nicht erklären können.  

Wie reagiert Falke, als er im Klosterkeller pornografische Fotos entdeckt, die den Missbrauch von Kindern zeigen? 
Wir durften und wollten ja nicht solche Bilder zeigen, sondern mussten allein über Falkes Reaktion deutlich machen, was er sieht und welche furchtbaren Verbrechen im Kloster geschehen sind. Es war nicht so leicht, das darzustellen. Falke klickt sich durch die Diasammlung, und der Zuschauer sieht, wie es ihn menschlich mitnimmt.

 

In seinem Gesicht stehen Ekel und Entsetzen. Als die örtliche Kollegin die Ermittlungen verschleppt, da erwacht der Kämpfer in Falke. 

Entspinnt sich dann die Geschichte: ein Mann allein gegen die Kirche? 
Dann eher: Falke allein gegen das Böse. Die Kirche als Institution wird in unserem „Tatort“ nicht angegangen, sondern wir thematisieren ihre schlimmsten Auswüchse, den Missbrauch von Macht, das System von Vertuschen und Verheimlichen, und das fatale Schweigegelübde, das noch heute über dem Gesetz steht. Mit alledem beschäftigt sich die Kirche nur mangelhaft, zu ihrem eigenen Nachteil. Die Taten, von denen wir erzählen, mögen längst verjährt sein. Aber die Menschen leiden noch immer unter dem, was ihnen angetan wurde. Mir ist bewusst, die Kirche tut auch unendlich viel Gutes, zum Beispiel im Sozialen und in der Pflege. Ohne deren Engagement sähe es in unserem Land anders aus. Trotzdem muss die Kirche sich diesen unerträglichen, immer und immer wiederkehrenden Missbräuchen stellen und Verantwortung übernehmen. 

Was können Sie über die Zusammenarbeit mit Lars Kraume berichten? 
Mit Lars zu drehen war eine Offenbarung. Er ist ein sehr intelligenter Regisseur, der immer genau wusste, was er will, und der den Mut hatte, in Szenen auch mal dazwischenzugehen und zu sagen: Wartet mal, es geht in dieser Szene um etwas völlig anderes! Es war auch wichtig, dass er sich mit der Katholischen Kirche gut auskennt. Da war kein Hass oder Unwissen. Er ging immer mit großer Kenntnis an die Szenen heran. 

Was macht diesen „Tatort“ aus? 
Es ist ein emotional herausfordernder und mutiger Film, allein auf Grund des Themas, kein typischer Whodunit-Krimi, in dem am Ende ein Einzeltäter zur Strecke gebracht wird. Im Fokus steht ein uraltes, antikes kirchliches System, das Missbrauch begünstigt und die Täter in Schutz nimmt. Die Geschichte ist leider sehr nah an der Wirklichkeit. Umso größer ist mein Respekt für das Bistum, in dessen Kloster wir den „Tatort“ drehen durften. Die Verantwortlichen haben das Buch ja vorher gelesen. Mit diesem Einverständnis hat das Bistum versucht, einen wichtigen Beitrag zu leisten.  

„Daniel ist eine verlorene Kinderseele, die im Körper eines alternden Mannes steckt“   

Gespräch mit Florian Lukas über seine Darstellung eines Missbrauchsopfers und die Verantwortung, die er als Schauspieler gegenüber den Betroffenen empfunden hat 

„Warum ich?“ ist eine Frage, die Daniel Weinert nicht loslässt. Warum hat Pastor Otto damals ihn in seinen Wohnwagen gebeten? Er hat sich doch nichts zuschulden kommen lassen. Im Gegenteil: Er war doch schon gestraft genug. Hilflos hat Daniel damals zusehen müssen, wie sich sein betrunkener Vater versehentlich selbst anzündet und verbrennt.
Immer wieder hat er versucht, sein Leben auf die Reihe zu bekommen, aber weder Beziehungen noch Ausbildungen oder Jobs haben dauerhaft funktioniert. Immer gab es den Punkt, an dem Kopf und Körper dichtgemacht haben. Da konnte der Wille noch so stark sein, die Vergangenheit hat ihn fest im Griff.
Seinen eigenen Sohn konnte er kaum anfassen, die Bindung ist

nach der Trennung der Mutter gänzlich gerissen. Daniel wohnt noch bei seiner Mutter. Im Kloster lernt Daniel Thorsten kennen. Ein guter Typ. Sie freunden sich an. Für Daniel keine kleine Sache. Ein Freund muss immer sofort kommen, wenn man ihn ruft. Immer. Sofort. Aber er soll kommen, um zu helfen, und nicht, um neugierige Fragen zu stellen.
Dass sich Daniel hier im Kloster aufhält, ist kein Zufall. Pastor Otto ist wieder hier. So wie früher. Fußball spielen war einmal ein Ausweg, ein Hoffnungsschimmer, eine Gelegenheit, sich gut, stark und eingebunden zu fühlen. Dabei hat Pastor Otto geholfen – um dann alles zu zerstören. Es gibt einiges zu klären. 

Sie spielen Daniel Weinert, der als Ministrant in einem katholischen Kloster missbraucht worden ist. Noch mehr als 30 Jahre später leidet er unter der Tat. Wie haben Sie seinem Schmerz Ausdruck verliehen? 
Ich habe mich darauf konzentriert, dass meine Figur eine kindliche Seele geblieben ist. Daniel ist eine verlorene Kinderseele, die im Körper eines alternden Mannes steckt. Diese Vorstellung habe ich in meine Körpersprache und ins Kostümbild zu übersetzen versucht. Er läuft auf dem Klostergelände herum wie ein vernachlässigter kleiner Junge. Die Ärmel seines Pullovers sind so lang, dass die Hände verborgen sind. Weil ich stark kurzsichtig bin, trage ich beim Drehen normalerweise Kontaktlinsen. Für den „Tatort“ habe ich die Linsen weggelassen, um mein Wahrnehmungsradius zu verringern. Es sollte mir dabei helfen, einen Menschen zu spielen, der nicht mehr in der Lage ist, viel weiter zu denken und zu fühlen, als sein Arm reicht.  

Haben Sie recherchiert, was in den Opfern sexuellen Missbrauchs in der Kirche vor sich geht? 
Zu meinem Glück gibt es Männer, die willens und in der Lage sind, darüber in Reportagen offen zu sprechen. Ich habe mir angeschaut, wie sie über die Taten berichten, die ihr ganzes Leben beeinflusst haben. Das soll jetzt nicht zu harmlos klingen. Für mich ist es eigentlich wie Mord. Die Tötung einer Kinderseele, die sich davon wahrscheinlich nicht mehr erholen wird. Dass es die Opfer trotzdem schaffen, über ihre Erfahrungen vor der Kamera zu erzählen, hat mich sehr beeindruckt. Ich habe eine große Verantwortung gefühlt, diesen Männern meine Stimme und mein Gesicht zu geben und zumindest ansatzweise nachzuerzählen, was sie erlitten haben.   

Haben Sie sich auf diese Rolle länger als sonst vorbereitet, damit keine falschen Noten ins Spiel kommen? 
Ich bin in der Vorbereitung grundsätzlich sehr pedantisch, egal, welches Thema ich anfasse. Ich gehe immer mit großem Ehrgeiz daran, eine Figur in ihren psychologisch-emotionalen Zusammenhängen so wahrhaftig wie möglich zu erzählen. Natürlich kann man in einem fiktionalen Format wie dem „Tatort“, das sich an ein größeres Publikum richtet, inhaltlich nicht so ins Detail gehen wie in einer Reportage. Trotzdem fühle ich eine gewisse Verpflichtung, das Thema ernst zu nehmen und nicht zu sagen, na ja, wir machen hier ja Fiktion und setzen unsere eigene Geschichte um.

Ich möchte nicht, dass ein Missbrauchsopfer vor dem Fernseher denkt, da kommt irgendein Schauspieler, der für eine gewisse Summe Geld so tut, als wenn er etwas richtig Furchtbares erlebt hätte.  

Machen sich die Täter keine Vorstellung davon, was sie den Kindern antun? 
Es ist schwer nachzuvollziehen, warum im Rahmen der Kirche Gott als übergeordnete moralische Instanz nicht funktioniert, die solche Verbrechen verhindert. Ich denke, dass die Täter der Kirche nicht wirklich an Gott glauben. Besonders diejenigen Männer, die selber Missbrauch erfahren haben und in einer kindlichen Entwicklungsstufe stehengeblieben sind, sitzen vermutlich der Illusion auf, sie würden den Kindern etwas Gutes tun, ihnen Aufmerksamkeit und Zuwendung geben. Es trifft ja vor allem Kinder, die in ihrem Elternhaus nicht die Liebe und Fürsorge bekommen.  

Warum kehrt Daniel als Erwachsener an das Kloster zurück? Was ist sein Hauptmotiv? 
Er will sein Leben zurück. Männer wie Daniel haben das Gefühl, ihnen wurde etwas gestohlen. Da ist ein Loch in ihrem Leben, und sie glauben, dass die Leute, die es verursacht haben, auch verpflichtet sind, es wieder aufzufüllen. Und die Wunden zu heilen. Es ist nicht der Gedanke an Rache, der Daniel antreibt, sondern der Wunsch, etwas zurückzubekommen: eine gewisse Unschuld, ein kindlicher Frieden, ein Vertrauen in die Menschheit. Für ihn war die Kirche ein Familienersatz, der ihn enttäuscht und schwer verletzt hat.  

Herrschte beim Drehen im Kloster eine ganz besondere Atmosphäre? Besser; Wie haben Sie die Atmosphäre am Set beim Dreh im Kloster wahrgenommen? 
Wenn sich ein Filmteam wochenlang in einem großen, leerstehenden Kloster aufhält, dann stellt sich eine ganz andere Intimität ein als bei einem normalen Dreh. Die Historie, das Gebäude, die alten Schränke und Möbel, die Kreuze, Bilder und Pieta-Skulpturen, das alles atmete eben auch und sickerte so in die Darstellung ein. Regisseur Lars Kraume hat ein umsichtiges Team zusammengestellt, das uns Schauspielern ermöglichte, etwas emotional so Bewegendes entstehen zu lassen. Ich kenne Lars seit 30 Jahren. Er mag keine Künstlichkeit, sondern sucht immer den geraden Weg.  

„Sie kann die unsagbaren Vergehen nicht mit ihrem tiefen Glauben vereinbaren“ 

Statement von Lena Lauzemis über ihre Rolle als örtliche Polizistin

Familie und Beruf zu vereinbaren stellt die Kommissarin Eva Pötter schon vor genug Probleme. Da sind ihre Kinder, die fragwürdige Zuverlässigkeit ihres Mannes und dessen attraktive Kollegin bei der Feuerwehr. Ein schwer verdaulicher Mix. Nun stellt sich die Frage der Vereinbarkeit neu: Glaube und Beruf. Pötter ist katholisch, angesichts eines Mordopfers bekreuzigt sie sich. Wenn sie jetzt im Kloster in einem möglichen Mordfall ermittelt, ist allerstrengste Professionalität angesagt. Denn eigentlich geht es hier um das Unmögliche: Vertreter der heiligen Kirche als potenzielle Täter. Das „potenziell“ muss sie bald streichen. Pastor Otto ist nicht nur Opfer, sondern vor allem vielfacher Täter.  „Halten Sie sich bitte zurück, Herr Falke!“ Das sagt Eva Pötter nicht nur, das denkt sie auch fortwährend, wenn der Klostergast/Kommissar ohne jeden Respekt Würdenträger anschnauzt. Sie mag Beißhemmungen haben, ihr Zorn mag nicht so laut sein, aber wahrscheinlich ist er sogar umso größer, denn schließlich wird sie hier um ihren Glauben betrogen, nicht Falke. Einmal aber rückt das Grauen zu nah an sie heran. Was sie zu sehen bekommt, kann sie nicht glauben. Da setzt sogar ihre Professionalität aus. 

„Die örtliche Kommissarin Eve Pötter ist eine streng gläubige Katholikin. Als in ihrer Gemeinde die Verbrechen an schutzbefohlenen Kindern ans Licht kommen, steht sie der Gegenwart und der Vergangenheit fassungslos gegenüber. Sie glaubt an die Kirche als einen Ort des Schutzes und der Geborgenheit in einer Gemeinschaft. In ihrer Familie wird bei Tisch gebetet. Die Ohnmacht gegenüber diesem organisierten, gewaltvollen System der Macht macht sie zeitweise handlungsunfähig und befangen.  Ihr Sohn wird Teil der Ermittlungen, was sie gerne verhindert hätte. Ein Stück weit entzieht sie sich der Realität. Die unzähligen Dias und Super-8-Aufnahmen der missbrauchten Kinder kann sie nicht ansehen, wie es von einer Kommissarin erwartet wird. Sie gerät in einen inneren Konflikt, sich dem zu stellen, was sich an Brutalität auftut in ihrer Welt. Denn sie kann die unsagbaren Vergehen nicht mit ihrem tiefen Glauben vereinbaren.“

 

„Ich hoffe sehr, wir haben den Ton getroffen und ein Fenster geöffnet in diesem nach allen Seiten verriegelten Haus“ 

Gespräch mit Sebastian Blomberg über seine Rolle als Generalvikar und die Katholische Kirche, die das Theater beherrscht wie keine andere Institution  

Äußerlich ist Generalvikar Billing von tadelloser Haltung. Freundlich begrüßt er den leger gekleideten Kommissar, freundlich erteilt er dessen Anliegen eine Absage. Nein, in Pastor Ottos Personalakte wird er nicht ohne Weiteres Einsicht gewähren. Billings Aufgabe ist es schließlich, sich um das ihm anvertraute Personal zu kümmern, meist schützend. Kontroversen werden intern ausgetragen. Ja, er habe eine Auseinandersetzung mit Pastor Otto gehabt, ja, sogar Streit. Aber es sei um die Organisation eines Festes gegangen. Die Wahrheit ist eine Sache, die Billing nicht mit der Polizei verhandelt. Die Soutane trägt Billing wie eine Rüstung im Kampf gegen die Ungläubigen – oder im Kampf gegen sich selbst.  

Für Ihre Rolle als Generalvikar sind Sie in die Soutane geschlüpft. Hat Ihnen das Kostüm geholfen, sich in einen kirchlichen Würdenträger zu verwandeln? 
Ich glaube, dass jeder Würdenträger dieses Mittel nutzt, um Macht und Repräsentation auszustrahlen. Und so geht es einem als Schauspieler. Die Soutane war vor dem Dreh lange ein Diskussionspunkt. Heutige Kirchenfunktionäre tragen dieses Obergewand nur zu offiziellen Anlässen, aber nicht im Alltagsgeschäft. Wir haben uns dennoch für die Soutane entschieden, weil es um die Verkörperung von Macht geht und weil sich in ihr ein gewisser Ästhetizismus der Kirche ausdrückt. Auf der einen Seite die reichen Stoffe und wallenden Silhouetten, auf der anderen das hässliche Thema Missbrauch: Sie ergeben im Film eine perfide Paarung.    

Der Generalvikar schafft Beweise für Missbrauch beiseite und bemüht sich doch in seinem Rahmen um Veränderung. Steckt er in einem ausweglosen Dilemma? 
Er versucht, in der Institution zu funktionieren und gleichzeitig mit einem aufklärerischen Impetus aufzutreten, um das System quasi im Geheimbündlerischen zu reformieren. Eigentlich ist ihm schon vor langer Zeit klar gewesen, dass man das System Kirche von innen heraus nicht ändern kann. Aber irgendwie agiert er noch auf der letzten heruntergefahrenen Felge, in dem Glauben, das Notwendigste zu tun, im Grunde sogar den Betroffenen zu helfen und die Täter ihrem Recht zuzuführen. Es hat ja seine Gründe, dass Kirche häufig mit Mafia und Omertà, dem selbstauferlegten Schweigegelübde, verglichen wird. Der Pflicht, den Mund zu halten, unterliegen bis heute alle, die in der Kirche und aus ihr heraus agieren. Wer sagt, was Sache ist, wird früher oder später sein Amt verlieren, vor allem, wenn er eine gehobene Position bekleidet. 

Es ist nicht das erste Mal, dass Sie sich als Schauspieler mit dem Thema auseinandersetzen. 
Zum ersten Mal kam das Thema auf mich zu, als ich von dem systemischen Missbrauch an der Odenwaldschule erfahren habe. Weil ich selber Internatskind bin, haben mich die Vorfälle betroffen und in ihrer Dimension sprachlos gemacht. Ich kannte Schüler von der Odenwaldschule und habe dort als Jugendlicher Theater gespielt. Heute blicke ich als Schauspieler nicht ohne eine gewisse Faszination und Affektion auf die Institution der Kirche. Selber als Protestant aufgewachsen, hat mich die in sich geschlossene Liturgie der Katholischen Kirche doch immer interessiert. Ich bin ein Mensch vom Theater, und die Katholische Kirche beherrscht das Theater. Sie hat es wahrscheinlich erfunden wie keine andere Institution. Das meine ich im Positiven wie im Negativen.  

Finden Sie es skandalös, dass die Kirche alles unternimmt, um eine Strafverfolgung zu verhindern? 
Ja, das ist an Anmaßung nicht zu übertreffen. Die institutionelle Anmaßung, über dem Gesetz zu stehen, ist bis heute ein Skandal, dem sich keiner wirklich annimmt. Auch die Politik nicht.  

Was wünschen Sie diesem Film? 
Mögen viele diesen Film sehen und die Betroffenen offen sagen, wie sie ihn finden. Ich persönlich hoffe sehr, wir haben den Ton getroffen und ein Fenster geöffnet in diesem nach allen Seiten verriegelten Haus.  

„So darf es nicht bleiben, wir müssen etwas dagegen tun!“ 

Gespräch mit Matthias Katsch über den „Tatort: Schweigen“ und die Gründe, warum die Täter von Kindesmissbrauch in der Kirche ideale Bedingungen vorfanden 

Matthias Katsch ist Mitbegründer und Sprecher der Betroffenen-Initiative „Eckiger Tisch“. Seit 2010 wirkt Katsch an der Aufdeckung sexuellen Kindesmissbrauchs im Kontext der Katholischen Kirche mit und engagiert sich ehrenamtlich für die Interessen von Betroffenen. Er ist seit 2019 auch Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. 

Macher und Mitwirkende des „Tatorts: Schweigen“ sprechen von einer großen Verantwortung, die sie gegenüber den Betroffenen gespürt haben. Sind sie ihr gerecht geworden?  
Ich finde den Film hervorragend. Es hat mich wirklich beeindruckt, wie es den Filmschaffenden gelungen ist, dieses sehr komplexe Thema zu einer fiktiven Geschichte zu verdichten und auf den Punkt zu bringen. Es ist für mich das Beste, was ich im fiktionalen Fernsehen zu katholischen Missbrauchsskandalen gesehen habe, seit wir im Jahr 2010 das Thema öffentlich gemacht haben. Ich muss gestehen, am Anfang hatte ich die Befürchtung, dass die Geschichte auf ein Rachedrama hinauslaufen könnte. Aber die Opfer suchen in der Regel keine Vergeltung. Ich kenne keinen Fall, in dem ein Opfer an seinem Täter nach Jahren Rache geübt hätte.  

Der Krimi greift einen aktuellen Fall aus Trier auf und dessen überdiözesanen Pädosexuellenring, spielt aber auch auf den schweren Missbrauchsfall auf einem Campingplatz in Lügde an. Folgen die kirchlichen Fälle einem anderen Muster? 
Ja, ganz klar. Fälle wie in Trier haben sehr stark mit dem kirchlichen System zu tun. In einer 2018 vorgestellten Studie haben Forscher die Personalakten von mehr als 38.000 Priestern in deutschen Bistümern nach 1945 ausgewertet. Sie fanden in fünf Prozent der Akten Hinweise auf sexualisierte Gewalt gegen Kinder und arbeiteten ein Muster des Verheimlichens und Vertuschens heraus. Die Täter waren signifikant häufiger im Laufe ihrer Karriere hin und her versetzt worden.  

Was macht die Römisch-Katholische Kirche so anfällig für Missbrauch? 
Es ist erstens ihre vormoderne Sexualmoral, also ihre Haltung zur menschlichen Sexualität und besonders zur Homosexualität. Zweitens geht es um das innerkirchliche Machtgefälle zwischen geweihten Priestern und den einfachen Gläubigen. Der Respekt vor dem Priester war in den Gemeinden enorm. Drittens sind alle Mächtigen in der Kirche Männer. Frauen haben in der Institution nur eine dienende Funktion. So konnte ein männerbündisches Binnenklima entstehen, Taten wurden leicht unter den Teppich gekehrt. Dann spielt der Zölibat eine Rolle. Übergriffe auf Kinder werden von Priestern, die solche Taten begehen, vor allem als Sünde gegen ihr Versprechen der Ehelosigkeit gesehen – und nicht als das, was sie sind: Gewaltakte. Sünden aber kann man beichten und können vergeben werden. Das bedeutet: Wenn ein Priester eine Frau heiratet, ist er automatisch aus der Kirche ausgeschlossen. Wenn er aber ein Kind missbrauchte, konnte er mit großem Verständnis rechnen. Er wurde versetzt, in Therapie geschickt, man versuchte, ihn zu rehabilitieren, schickte den Mann ins Ausland, wo ihn keiner kannte.  Schließlich der fünfte Risikopunkt: Das Sakrament der Beichte diente in vielen Fällen als Einfallstor für Priester, um mit Kindern über Sexualität zu sprechen, in einer Art und Weise, wie wir es sonst niemandem in unserer Gesellschaft erlauben würden. Die oben erwähnte Studie hat gezeigt, dass neben Ministranten besonders Kinder bei ihrer ersten Beichte Gefahr liefen, Opfer von Übergriffen zu werden. Der Beichtstuhl kann also ein Gefährdungsort für Kinder sein, die in eine riskante eins-zu-eins-Situation geraten. Gleichzeitig gehört es zum Selbstverständnis der Kirche, Sünden zu vergeben. Das gilt auch für die Sünde gegen den Zölibat. So war die Beichte auch ein Weg für Priester, sich von ihren Taten reinzuwaschen.  

Konnten die Täter davon ausgehen, dass die Kirche sie tendenziell in Schutz nehmen wird? 
Die jahrzehntelange Vertuschungskultur der Kirche verschaffte den Tätern die Gewissheit, dass die Institution sie nicht ausliefern würde, egal, was sie getan haben. Insofern fanden die Täter in der Kirche ideale Bedingungen vor. 

Im Film kehrt das Opfer Daniel in das Kloster zurück, in dem er als Kind missbraucht wurde. Wie erklärt es sich, dass sich viele Betroffene nicht von der Kirche lossagen können? 
Im katholischen Glaubensbekenntnis gibt es den Satz: Ich glaube an die Katholische Kirche. Das bedeutet für die Gläubigen eine starke emotionale Bindung. Vielfach bleiben Betroffene, die ja als Katholiken aufgewachsen sind, auch in ihrem weiteren Leben der Kirche verbunden. Einerseits ist man empört über die Kirche, die einem Furchtbares angetan hat, gleichzeitig kommt man nicht davon los. Viele Opfer wie die Figur Daniel im Film offenbaren diese merkwürdige Bindung an die Kirche, so dass sie immer wieder von der Institution Erklärungen verlangen, die sie für ihre Psychohygiene brauchen: „Warum ist es ausgerechnet mir passiert?“, fragt Daniel. „Sollte ich vielleicht sogar mitverantwortlich sein?“ Für das Opfer heißt das: Zur erlittenen sexuellen Gewalt kommt noch das Schuldgefühl, irgendwie daran mitgewirkt zu haben. Dem Opfer genau das einzureden, ist oft Teil der Täterstrategie. 

Wie beurteilen Sie die Figur des Generalvikars? Er schafft Beweise beiseite, um Schaden von der Institution Kirche abzuwenden. Gleichzeitig geht er gegen die Täter in seinem kirchlichen Rahmen vor. Ist er eine tragische Figur? 
Ein Mensch handelt schlicht und einfach gewissenlos, wenn er einen Täter vor der Strafverfolgung schützt und ihm so Gelegenheit gibt, weitere Verbrechen zu begehen. In diesem Fall trägt der Generalvikar die Personalverantwortung. Eine Untersuchung über die Bistümer in den 1960er- und 1970er-Jahren hat belegt, dass die Kirche gezielt Priester ins Ausland in Sicherheit gebracht hat, wenn sie in Gefahr standen, von der Staatsanwaltschaft vorgeladen zu werden. Im Film ist der Generalvikar zwischen zwei Loyalitäten hin und her gerissen. Tragisch wäre es dann, wenn er in einen Konflikt geraten würde, den er nicht lösen kann. Hier ist die Lösung eigentlich sehr klar. Der Generalvikar muss sich auf die Seite der Opfer stellen oder seinen Job an den Nagel hängen.  

Ist die Kirche aus sich heraus fähig, die Fälle aufzuklären, den Opfern zu helfen und sie für das Leid zu entschädigen? Oder braucht sie Hilfe von außen? 
Ich glaube, keine Institution schafft das allein. Was die Kirche zumindest tun könnte, aber bis heute unterlässt, ist, den Schaden wiedergutzumachen, indem man die Opfer angemessen entschädigt. Stattdessen hat die Kirche ein intransparentes Anerkennungssystem installiert, bei dem die Opfer einen Antrag bei der Täterorganisation stellen müssen, die dann nach von ihr festgelegten Kriterien entscheidet, welche Summe sie als Anerkennungsleistung zu zahlen bereit ist. 

Sollten auch die Mittäter, die Täters des Vertuschens, zur Verantwortung gezogen werden? 
Nach dem Kirchenrecht gilt zwar seit einigen Jahren die Regel, dass Verdachtsfälle untersucht und – wenn sich der Verdacht zu bestätigen scheint – auch bei den weltlichen Autoritäten angezeigt werden soll. Dagegen wurde aber vielfach verstoßen. Juristisch gibt es in Deutschland keine Anzeigepflicht für Vorgesetzte. Wenn ich erfahre, dass mein Untergebener Kinder missbraucht, muss ich ihn nicht anzeigen. Außer ich wüsste, dass er es weiterhin tut. Aber die Täter versprechen natürlich hoch und heilig, es kommt nicht wieder vor. In Ländern wie Frankreich oder Belgien, wo es eine solche Anzeigenpflicht gibt, kommen die Mitwisser nicht so leicht davon. Dort fanden sich schon Bischöfe und sogar Kardinäle vor Gericht wieder, weil ihnen nachgewiesen wurde, dass sie Missbrauchstäter geschützt haben.  

Gibt es heute uneingeschränkten Zugang zu den kirchlichen Akten zum Beispiel im Vatikan, die Missbrauchsfälle dokumentieren.? Oder gilt unverändert das „päpstliche Geheimnis“? 
Das „päpstliche Geheimnis“ – also die Geheimhaltungspflicht im Falle von innerkirchlichen Ermittlungen gegen einen Priester – gilt seit 2019 nicht mehr absolut. Dennoch ist der Weg zur Transparenz in diesen Fällen noch weit. Nach Aussagen von vatikanischen Mitarbeitern sind die Akten in Tausenden von Fällen in Rom gelandet. Weil die Vatikanstadt als eigener Staat gilt, sind sie dort für keine Staatsanwaltschaft der Welt mehr greifbar.  Es gibt aber eine gewisse Mitverantwortung der weltlichen Justiz: Verschiedene Untersuchungen der letzten Jahre, etwa eine Studie im Erzbistum München-Freising, haben gezeigt, dass die Justiz in Deutschland in Fällen von Missbrauch durch Priester gegenüber der Kirche sehr zurückhaltend aufgetreten ist und auch nicht aktiv nach Unterlagen gesucht hat.  

Sie wurden für ihre Aufklärung und Aufarbeitung von Missbrauch in der Kirche mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Hat sich die Kirche jemals für Ihre Arbeit bedankt? 
Nein, wir Aufklärer werden bestenfalls mit Missachtung gestraft. Das einzige Kompliment, das mir die Kirche immer wieder macht, ist ihr offensichtliches Bedürfnis, mir aus dem Weg zu gehen. Doch es ist nicht unser Interesse, dass die Kirchenleute uns ständig auf die Schulter klopfen und sagen „toll gemacht“, sondern dass sie endlich zu ihrer Verantwortung stehen, die Opfer angemessen entschädigen, die Akten für eine unabhängige Aufarbeitung zugänglich machen und Betroffeneninitiativen unterstützen.  

Im Film wird die Kirche mit einer Mafia-Organisation verglichen: straff geführt, nach außen abgeschottet, nur ihren eigenen Regeln folgend. Ist an diesem Vergleich etwas dran? 
Auch ich habe das Wort Mafia einmal in einem Artikel verwendet. Ich wollte damit aber nicht sagen, dass in der Kirche alle Verbrecher sind. Aber wenn ich eine Institution vor mir habe, die systematisch Verbrecher vor den Folgen ihrer Taten schützt und die dabei alle Machtmittel ausnutzt, politische wie finanzielle, dann fällt mir keine andere Analogie ein.  

Was erhoffen Sie sich von der Ausstrahlung des „Tatorts: Schweigen“? 
Wir haben 2010 mit der Gründung der Initiative „Eckiger Tisch“ ein kleines Steinchen ins Wasser geworfen, und ich staune heute noch, an welchen fernen Küsten die Wellen angeschlagen haben. Ich hoffe, dass der Film Betroffenen und deren Angehörigen Mut macht oder sie veranlasst, sich Unterstützung zu suchen, um nicht allein damit zu bleiben. Die Erwartung, dass die Amtskirche reagiert, habe ich leider nicht mehr. Aber vielleicht lassen sich die Gläubigen motivieren, sich einzumischen: So darf es nicht bleiben, wir müssen etwas dagegen tun!  

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