Mythos Rothenbaum

Die Wiege des deutschen Tennis

Hamburg ist die Wiege des weißen Sports in Deutschland. Seit 1892 findet in der Hansestadt das traditionsreichste deutsche Tennisturnier statt, seit 1924 auf dem Gelände am Rothenbaum. Zu der wechselvollen Geschichte zählen große Siege, Tragödien und immer wieder Zukunftsängste.

Kein leichter Start

Es erweist sich als Glücksfall für das deutsche Tennis, dass die Geschäfte von Carl August von der Meden in den späten 1870er-Jahren in England nicht mehr laufen. Aus dem Londoner Vorort Wimbledon bringt der Hamburger Kaufmann die Idee eines Lawn-Tennis-Turniers mit, und so findet 1892 auf der Anlage des "Eisenbahnvereins auf der Uhlenhorst" die Meisterschaft von Hamburg statt. Es ist ein Start mit Hindernissen: Während des Turniers wütet in Hamburg die Cholera, mehr als 8.000 Menschen sterben. Das Turnier wird unterbrochen, erst nach sechs Wochen steht der Sieger fest: der 19-jährige Walter Bonne aus Harvestehude, in der Szene als "Löffler" verschrien.

Ein gesellschaftliches Ereignis

Tennis ist ein Vergnügen für die feine Gesellschaft - auf und abseits des Platzes. Der erste Held dieser Zeit ist dann auch ein Adeliger: Graf Viktor Eugen Felix Voß-Schönau, der als Frauenschwarm gilt, gewinnt zwischen 1894 und 1896 dreimal in Folge.

In den ersten fünf Jahren dürfen nur Deutsche und Österreicher teilnehmen, doch schon kurz nach der Jahrhundertwende sind Spieler aus neun verschiedenen Ländern dabei. Die Internationalen Tennis-Meisterschaften von Deutschland wachsen von Jahr zu Jahr, das Turnier wird schnell zu einer Institution. Ab 1924 wird es nach Abstechern auf die Uhlenhorst und nach Bad Homburg ständig auf der Anlage am Rothenbaum ausgetragen.

Froitzheim der Rekordsieger

Eine Legende der frühen Jahre ist der gebürtige Straßburger Otto Froitzheim. Zwischen 1907 und 1925 triumphiert "Otto der Große", der seine Gegner mit seinem ausdauernden Grundlinienspiel zermürbt, sieben Mal am Rothenbaum - bis heute unerreicht.

Der für seine Fairness und elegante Spielweise bekannte deutsche "Tennisbaron" Gottfried von Cramm startet seine Erfolgsserie 1932 - fünf weitere Siege folgen.

Im Jahr 1939 findet das Turnier vorerst zum letzten Mal statt. Sieger Henner Henkel fällt später im Krieg. Gottfried von Cramm lässt sich nicht mit den Nazis ein, verweigert beharrlich den Beitritt in die NSDAP. Im März 1938 wird er nach einer Turnierreise verhaftet und zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt. Nicht zuletzt dank der Hilfe des schwedischen Königs Gustav V., mit dem er zuweilen Doppel spielt, kommt er vorzeitig frei. 1940 wird er einberufen.

Tennisbaron von Cramm: Triumph des Charakters

Schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg nimmt von Cramm, der sehr gut Englisch spricht, Kontakt zur britischen Besatzungsmacht auf und sorgt dafür, dass die Internationalen Tennis-Meisterschaften am Rothenbaum drei Jahre nach Kriegsende wieder aufleben.

Die Zuschauer verneigen sich

Von Cramm gewinnt das Finale 1948 gegen Helmut Gulcz in vier Sätzen, im Jahr darauf holt er mit 39 seinen sechsten und letzten Einzeltitel am Rothenbaum. Erst im Alter von 46 Jahren beendet der "Tennisbaron" seine Karriere, der kurz zuvor noch einmal gemeinsam mit Budge Patty aus den USA im Doppel triumphiert. Die Zuschauer am Rothenbaum verneigen sich. Als Präsident der ausrichtenden Hamburger Tennis-Gilde bleibt er dem Turnier verbunden, das immer internationaler wird: 1961 und 1962 siegt der Australier Rod Laver.

Deutsches Duell zwischen Bungert und Kuhnke

1964 schicken sich Wilhelm Bungert und Außenseiter Christian Kuhnke aus Hamburg an, in von Cramms Fußstapfen zu treten. Die beiden jungen Davis-Cup-Spieler sorgen im bislang letzten deutschen Finale für Begeisterungsstürme bei den mittlerweile 8.000 Zuschauern auf den Tribünen. Der favorisierte Bungert startet schlecht, verliert den ersten Satz mit 0:6 und liegt auch im zweiten Durchgang zurück. Am Ende setzt sich der Mannheimer mit 0:6, 6:4, 7:5, 6:2 durch. Er bleibt für lange Zeit der letzte deutsche Sieger im Herren-Einzel von Hamburg.

In den 1970er-Jahren sehnt sich das Tennis-Publikum nach den absoluten Weltstars - und wird im Mai 1979 bedient: In Björn Borg landet der beste Spieler der Welt in Hamburg. Dreimal hat der Schwede schon Wimbledon gewonnen, aber noch nie war er am Rothenbaum. "Er war der erste Spieler, der mehr als drei Schläger mitbrachte", so der damalige Turnierleiter Uli Boes: "Da wusste man, das ist wirklich ein Star." Die Erwartungen an Borg sind gewaltig.

Zwei Matches lang dürfen die Hamburger das einzigartige Top-Spin-Spiel des Schweden genießen, dann ist Schluss. Borg rutscht im Achtelfinale auf einer Linie aus und muss aufgeben. Es bleibt sein erster und letzter Auftritt am Rothenbaum.

Zu Beginn der 1980er-Jahre avanciert Yannick Noah zum Liebling der Fans. Der Franzose, verheiratet mit Miss Schweden, verfügt nicht nur über Ausstrahlung und Können, sondern auch ein riesiges Kämpferherz. Mit spielerischer Leichtigkeit unterhält er sein Publikum und holt sich 1983 den Titel gegen Vorjahressieger Jose Higueras, genannt die "spanische Wand". Die Hamburger Zuschauer bejubeln ihn wie kaum einen Sieger zuvor.

Eine neue Zeitrechnung hat begonnen, auch in Hamburg herrscht 1986 "Becker-Mania". Schon zweimal hat Boris Becker Wimbledon gewonnen, ist in Deutschland zum Volkshelden geworden. Nun schlägt er am Rothenbaum auf - der Rummel ist gigantisch. 12.000 Zuschauer haben jetzt auf dem erweiterten Center Court Platz, doch die Fans drängen sich vor den Eingängen. Allerdings: Bei Becker läuft es nicht, er hadert mit allem und jedem. Dem Wetter, dem Platz, mit sich und den Zuschauern, am Ende verliert er gegen den unbekannten Amerikaner Mel Purcell in drei Sätzen. "Ich spiele nie wieder in Hamburg. Das Publikum wollte nur ein Spektakel sehen und kein Tennis-Match", wettert er im Anschluss.

Besuch aus der Hafenstraße

Doch Becker kommt wieder. Schottet sich ab, trainiert heimlich auf einer anderen Anlage - und sympathisiert mit den Hafenstraßenbewohnern. Er lädt sie zu seinen Spielen ein. Zwei, drei Sachen mit Becker seien "furchtbar" gewesen, berichtet der damalige Turnierleiter Uli Boes später: "Dass er an der Hafenstraße gesagt hat, ihr könnt alle kommen, ich gebe euch Karten. Und dann standen sie zu Hunderten an der Hansastraße und wir wussten nicht, was wir mit denen machen sollen." Bei Beckers Rothenbaum-Finale 1990 müssen seine neuen Freunde draußen bleiben. Der Superstar unterliegt Juan Aguilera in einem einseitigen Endspiel 1:6, 0:6, 6:7. Der spanische Dauerläufer ist ein Sandplatzspezialist. Ganz anders als Becker, der im Laufe seiner imposanten Karriere kein einziges Turnier auf dem ungeliebten Belag gewinnen kann.

Da hilft kein Beten: Bittere Pleite gegen Stich

10. Mai 1992: Becker trifft im Halbfinale auf Michael Stich. Im Jahr zuvor hat er schon das Wimbledon-Finale gegen den Lokalmatadoren verloren, aber diesmal geht er regelrecht unter. Der Elmshorner erwischt einen Traumtag, Becker das genaue Gegenteil davon. Zwischendurch lässt er sogar ein Ballmädchen für ihn spielen, er geht auf die Knie und betet. Für die Zuschauer ist es große Unterhaltung, ihm selbst nutzt all das nichts. "Ich hatte schon gehofft, dass er zwischendurch mal wieder ein bisschen normal spielt", sagt Becker nach dem 1:6, 1:6. Noch sechsmal versucht er sich danach am Rothenbaum, doch weiter als bis in die dritte Runde geht es nicht mehr.

Fast auf den Tag genau ein Jahr später krönt sich Stich mit einem Viersatz-Sieg über den Russen Andrei Chesnokov (6:3, 6:7, 7:6, 6:4) zum Rothenbaum-Sieger und erfüllt sich einen Kindheitstraum. 29 Jahre dauerte es bis zum nächsten Triumph eines deutschen Spielers, nun tritt Stich in Bungerts Fußstapfen. Bis heute wartet das Traditionsturnier auf den nächsten deutschen Sieger. Tommy Haas (2012) und Florian Mayer (2017) schaffen es immerhin ins Finale.

Jahrelang kämpfen am Rothenbaum auch die Damen um Spiel, Satz und Sieg. Die ersten deutschen Stars sind in den 1930er-Jahren Cilly Aussem und Hilde Krahwinkel-Sperling. Helga Masthoff gewinnt 1972 bis 1974 dreimal in Folge.

"Die Herren kamen immer auf die Center Courts und die vorderen Plätze, und wir Damen konnten uns hinten und auf den seitlichen Plätzen tummeln. Und so war es natürlich immer aufregend, wenn man ins Finale kam und auf einmal vor so vielen Leuten spielen musste. Da war man schon oft sehr nervös."
Helga Masthoff

Ihr drittes Finale bestreitet sie gegen ein junges Mädchen aus Prag: Martina Navratilova, die damals eher pummelig und noch weit von ihrem Format späterer Tage entfernt ist. "Sie hatte immer nur Unsinn im Kopf", erzählt Masthoff.

Steffi Graf siegt sechsmal in Folge

1987 beginnt die "Ära Graf". Steffi Graf gewinnt in Hamburg sechsmal in Folge. Den Sieg der vorerst letzten Damenkonkurrenz sichert sich 2002 die Belgierin Kim Clijsters im Finale gegen die zweimalige Rothenbaum-Gewinnerin Venus Williams (USA). Danach wird das Damen-Turnier vom damals fast bankrotten Deutschen Tennis Bund (DTB) für 4,5 Millionen Dollar nach Philadelphia in die USA verkauft.

Erst 19 Jahre später kehren die Damen an den Rothenbaum zurück. Die junge Rumänin Elena-Gabriela Ruse feiert im Juli 2021 im Finale einen 6:7 (6:8), 4:6-Erfolg gegen Andrea Petkovic. Die Darmstädterin ist auch Botschafterin des Turniers und soll es in der Szene bekannter machen. Für Ruse ist es der erste Sieg auf der WTA-Tour. Im Juli 2022 kämpfen erstmals seit 1978 Damen und Herren wieder in derselben Turnierwoche um den Titel.

Das Seles-Attentat: Die dunkelste Stunde

Auch das wohl dunkelste Kapitel der Turniergeschichte ereignet sich während des Damen-Turniers. Am 30. April 1993, eine Woche nach Stichs Triumph bei den Herren, stößt ein Steffi-Graf-Verehrer der damals 19 Jahre alten Monica Seles während eines Seitenwechsels im Viertelfinal-Match ein Küchenmesser zweieinhalb Zentimeter in den Rücken. Die Wunde verheilt gut, doch das Trauma bleibt. Zwei Jahre spielt die Weltranglistenerste nicht auf der Tour und wird nie wieder so gut wie vor dem Attentat. Dass der Täter nicht im Gefängnis landet, sondern zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt wird, kann Seles nicht verstehen. Sie kehrt nicht mehr nach Deutschland zurück. "Das Attentat veränderte meine Karriere unwiderruflich und beschädigte meine Seele", sagt sie später.

Das Messerattentat auf Seles am Rothenbaum

Ab 1999 zählt das Herren-Turnier zu den neun Austragungsorten der Tennis Masters Series der ATP. Das garantiert ein hochklassiges Teilnehmerfeld. Die Stars in den 2000er-Jahren heißen Roger Federer und Rafael Nadal. Der Schweizer Ausnahmespieler Federer gewinnt viermal am Rothenbaum, der spanische "Sandplatzkönig" Nadal zweimal - 2015 und 2008 im letzten Masters-Finale von Hamburg.

Trotz starker Besetzung droht dem Turnier das finanzielle Aus. Nach der Pleite der Schweizer Vermarktungsagentur ISL im Jahr 2001, die den Veranstaltern der Premiumserie Werbeeinnahmen von mehreren Millionen Dollar garantiert hatte, lassen sich die Gesamtkosten nicht mehr erwirtschaften. Boris Becker engagiert sich ab 2003 drei Jahre lang mit zwei Geschäftspartnern als "Chairman" am Rothenbaum, es folgt der Einstieg des katarischen Tennisverbandes. Ende 2008 tritt der DTB sein Erbbaurecht für 1,15 Millionen Euro an den Club an der Alster ab und wird Mieter des Hockey- und Tennisvereins.

Degradierung und Verlust des Masters-Status

Im selben Jahr verliert der Rothenbaum seinen Masters-Status, wird von der ATP in die dritte Kategorie herabgestuft. Der DTB scheitert in den USA mit seinen Klagen. Das Sandplatz-Turnier wird vom Mai in den terminlich ungünstigen Juli verlegt - nach der Rasen- und vor der Hartplatzsaison in Nordamerika. Die Top 20 der Welt sind nach der Degradierung kaum noch nach Hamburg zu lotsen, das sportliche und finanzielle Überleben wird zu einer riesigen Herausforderung.

Stich eine Dekade lang Turnierdirektor

Michael Stich nimmt sie 2009 an. Zehn Jahre lang fungiert der Hamburger als Turnierdirektor am Rothenbaum und stabilisiert die Traditionsveranstaltung finanziell. Dann gibt der DTB die Lizenz an den Österreicher Peter-Michael Reichel. Neue Turnierdirektorin ist dessen Tochter Sandra Reichel.

Beständig unbeständig ist in der über 110-jährigen Turniergeschichte vor allem das berühmt-berüchtigte Hamburger Wetter. Nicht jeder kommt damit zurecht, nicht jeder schätzt die Unwägbarkeiten, die es mit sich bringt. Der ehemalige rumänische Weltranglistenerste Ilie Nastase nimmt es 1975 mit Humor und verdutzt Publikum wie Veranstalter, als er mit Trenchcoat und Regenschirm antritt.

Kampf den Wetterkapriolen

Geschichte schreibt 1997 eine technische Neuerung, die den Wetterkapriolen und den damit verbundenen Spielverschiebungen zumindest auf dem Center Court Einhalt gebietet. Eine einzigartige Dachkonstruktion schützt sowohl Spieler als auch Publikum vor den nicht seltenen Regenschauern. Allerdings erleben bei der Premiere des neuen Dachs viele Zuschauer eine böse Überraschung, als sich ein Wasserschwall über den einen oder anderen ergießt. Ein Phänomen, das sich auch später häufiger wiederholt, weil die nötigen Sanierungsarbeiten ausbleiben.

Neues mobiles Dach 2019

Schon lange überholungsbedürftig, wird Mitte 2019 ein neues mobiles Dach über dem Center Court in Betrieb genommen. Die 3.000 Quadratmeter große Dachmembran lässt sich innerhalb weniger Minuten ausfahren und ist Bestandteil einer Gesamtsanierung der Anlage, die zehn Millionen Euro kostete und Mitte 2020 abgeschlossen wurde. Dazu gehört auch die Reduzierung der Zuschauerplätze auf dem Center Court von etwa 13.200 auf gut 10.000 Sitze.

Mythos Rothenbaum

Ein Storytelling zum Hamburger Tennisturnier


Redaktion:
Bettina Lenner
Thomas Luerweg

Schnitt:
Lukas Ehlers

Eine Produktion von NDR.de

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