
Mittwoch, 26. November, 20:15 Uhr, Das Erste
und in der ARD Mediathek

Authentizität, Alltag und Wirklichkeit
Sie gehört zu den herausragenden Drehbuchautorinnen Deutschlands. Davon zeugen Bären, Löwen, Lolas, Deutsche Fernseh- und Grimme Preise sowie viele andere Auszeichnungen. Dabei ist Laila Stieler eine der Autorinnen, die sich konsequent dem Krimi verweigern und noch nie einen „Tatort“ oder „Polizeiruf 110“ geschrieben haben.
Angesichts der vom Publikum gewünschten Sintflut an Krimis im deutschen Fernsehen ist ihre Karriere irgendwie erstaunlich – und zugleich kein Wunder, weiß sie nach intensiven Recherchen doch immer genau, wovon und von wem sie erzählt. Stieler zeichnet ihre Figuren so fein, sensibel, emphatisch und sozial präzise verortet wie nur wenige andere. Eine konstruierte Handlung entwickelt sich in ihren Geschichten eher beiläufig, Authentizität, Alltag und Wirklichkeit dominieren. Ihre Konzentration gilt den Entwicklungen im Inneren ihrer Charaktere, im Kontext eines genau abgesteckten gesellschaftlichen und sozialen Rahmens. Vermutlich hat das auch mit ihrer ostdeutschen Herkunft zu tun. Sie führt – oft gemeinsam mit Andreas Dresen, ihrem „Partner in Crime“‘ – wichtige Erzähltraditionen im deutschen Film fort, für die große Namen wie Wolfgang Kohlhaase und Konrad Wolf stehen.
Keine Krimis zu schreiben bedeutet für sie aber nicht, Polizeiarbeit in ihren Geschichten komplett auszusparen. Der sogenannte „Freund und Helfer“ hat einen oft schwierigen Beruf, in dem ein herausfordernder Alltag bewältigt werden muss, häufig auch in Konfrontation mit Aggressionen und Milieus am Rande der Gesellschaft. Mit „Die Polizistin“ hat Stieler darüber im Jahr 2000 einen Maßstäbe setzenden, vielfach preisgekrönten Film geschrieben. Die Heldin war eine authentische Rostocker Streifenpolizistin, die sozialen Widrigkeiten und ihren routinierten Kollegen trotzte, und sich dabei partout keine dicke Haut zulegen, sondern Empathie und Hoffnung erhalten wollte.
25 Jahre später erzählt „Polizei“ nun, sensibel und sanft inszeniert von Regisseurin Buket Alakus, eine weit weniger hoffnungsvolle
Geschichte von systemischem Zwang und Ungerechtigkeit – über wahllose Polizei-Gewalt, maßlose Misshandlungen und Erniedrigungen, abgesprochene Falschaussagen, polizeiinternen Korpsgeist und dessen Folgen. Muster, die manchmal ebenso zur Wirklichkeit bei der Polizei gehören wie eine ausufernde Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols. Davon handeln die zahllosen Helden- und Heldinnen-Geschichten der Prime Time Krimis eher selten.
Laila Stieler wählt in „Polizei“ nicht die Sicht der Ordnungshüter, sondern konzentriert sich auf die ohnmächtige Erzählperspektive eines Opfers. Sie zeichnet mit dem 18-jährigen Anton Stern das Porträt eines schwer traumatisierten jungen Mannes, der sich seiner Erinnerung nicht mehr sicher ist und, getrieben von Aggressions- und Panikattacken, um seine Zukunft fürchten muss. Nebenbei entsteht so auch die Skizze einer durch die Pandemie-Zeit geprägten, ebenso fragilen wie vom System enttäuschten, verwöhnten Generation, die sich zwischen Fatalismus und Kampfgeist entscheiden muss. Regisseurin Buket Alakuş hat dafür gemeinsam mit Produzent Peter Hartwig, Redakteurin Sabine Holtgreve und auch Laila Stieler ein großartiges Team vor und hinter der Kamera zusammengestellt. Im Zentrum des bewegenden Jugenddramas stehen dabei in seiner zweiten Hauptrolle der hochtalentierte Levy Rico Arcos, bekannt aus „Sonne und Beton“, und die glänzende Petra Schmidt-Schaller, die eindrücklich eine sehr besondere Mutter-Sohn Beziehung darstellen, die von einem veränderten Familienbegriff geprägt ist. Wir sind gespannt und freuen uns auf die Reaktionen der Zuschauerinnen und Zuschauer.
Christian Granderath (NDR), Leitung Film Familie & Serie

Inhalt
Anton ist von zu Hause ausgezogen. Er hat eine Lehre als Koch angefangen. Ein Mädchen hat er. Und eine Bleibe, zwar nur eine Laube, aber immerhin. Doch dann kriegt er diesen Brief. Diesen gelben Brief. Eine Anklageschrift. Die Sache liegt schon zwei Jahre zurück und er hatte sie so gut wie vergessen. Nun werden ihm „Schwerer Landfriedensbruch“ und „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ vorgeworfen. Aber wenn er versucht, sich an diesen 1. Mai vor zwei Jahren zu erinnern, ist da nur Leere. Ein blinder Fleck. Seine Anwältin rät, die Ereignisse zu rekonstruieren. Anton versucht es. Er taucht ein in ein Leben, mit dem er abschließen wollte, befragt frühere Freunde, geht an die Orte von damals. Mit Wucht tauchen schließlich die Bilder von damals auf. Die Demonstration, seine Festnahme. Anton erkennt, dass er nicht Täter ist, sondern dass er in einen Strudel aus Gewalt geraten ist, dem er hilflos ausgesetzt war.

BESETZUNG
Anton Stern
Levy Rico Arcos
Katja Stern
Petra Schmidt-Schaller
Merle
Antonia Breidenbach
Sabine Langweg
Luise Helm
Rosa Duarte
Jamilah Bagdach
Jonas
Florian Geißelmann
Otto
Michael A. Grimm
Gregor Stern
Alexander Hörbe
Herr Panzner
Andreas Anke
Emma
Katharina Hirschberg
u. v. m.
STAB
Regie
Buket Alakuş
Drehbuch
Laila Stieler
Kamera
Falko Lachmund
Szenenbild
Anke Osterloh
Maske
Grit Kosse, Uta Spikermann
Kostümbild
Anne-Gret Oehme
Schnitt
Julia Oehring
Ton
Till Röllinghoff
Casting
Karen Wendland, Jacqueline Rietz
Musik
Dürbeck & Dohmen
Produktionsleitung
Finn Freund, Daniel Buresch (NDR)
Produzent
Peter Hartwig
Redaktion
Christian Granderath, Sabine Holtgreve
Drehzeit
20.05.2025 – 25.06.2025
Länge
88:50 Minuten
Drehorte
Berlin und Umgebung
„Polizei“ ist eine Produktion der „Kineo Film GmbH“ im Auftrag des Norddeutschen Rundfunks für die ARD.

„Es geht nicht nur um Polizeigewalt, sondern geradezu um ein Desinteresse eines ganzen Landes seinen Jugendlichen gegenüber“
Gespräch mit Laila Stieler (Drehbuch)
Die Jugendstrafverteidigerin sagt irgendwann im Film: „Ich habe den Eindruck, das ganze Land hat sich gegen seine Jugendlichen verschworen.“ Stehen diese Worte letztlich auch für Ihren Impuls, das Buch entwickelt zu haben?
Ja, kann man sagen. Dieser Satz sowie der am Ende des Films: „Was wird aus unseren Kindern?“ Tatsächlich ging es mir bei der Entwicklung des Films zu Anfang ausschließlich um das Thema Polizeigewalt und um die Frage, wie ich mit meinen eigenen Wut- und Ohnmachtsgefühlen fertig werde. Und je mehr ich mich damit beschäftigt habe, desto klarer wurde mir, dass vor allem die junge Generation betroffen ist und dass es nicht nur um Polizeigewalt geht, sondern geradezu um ein Desinteresse eines ganzen Landes seinen Jugendlichen gegenüber.
Anton wirkt am Anfang des Films in seinem kleinen, bescheidenen Leben tatsächlich auch ein bisschen so, als müsse er sich vor allem auf sich selbst verlassen.
Anton ist ja einer von uns, kein notorischer Straftäter, naiv, gutmütig, hilfsbereit – ein toller Kerl eigentlich. Er hat diesen Dämpfer verpasst bekommen in seiner persönlichen Entwicklung und sich deshalb zurückgezogen. Er versucht, die seelische Erschütterung, das Trauma zu verdrängen und parallel dazu, sich etwas aufzubauen. Und das kostet natürlich unheimlich viel Kraft, sich seine eigene Welt zu schaffen und gleichzeitig diese furchtbare Demütigung wegzustecken. Die trifft ihn ja als heranwachsenden, jungen Mann mit voller Wucht.
Indem der Film über die Hauptfigur Anton in einigen Aspekten die Coronazeit mit der Polizeigewalt verknüpft, beschreibt er auch in gewisser Weise eine Kontinuität autoritärer Maßnahmen von Staat und Gesellschaft gegen Jugendlichen, oder?
Also es gibt auf der einen Seite diesen autoritären Teil, der sich in den Corona-Maßnahmen, auch in der Justiz und eben in Organen wie der Polizei äußert. Da erkenne ich durchaus Strukturelles und stehe damit ja auch nicht alleine. Es wurde im Zusammenhang mit Corona viel darüber geredet, wie schlimm das für die Kinder war. Die Jugendlichen aber sind bei diesen Analysen meist hinten runtergefallen – die also, die gerade in Umbruchphasen stecken, die eigentlich loslegen wollen, in ein Erwachsenenleben zu starten. „Die kommen schon klar, die sind ja älter, die werden das schon schaffen.“ Habe ich oft gehört. Nein, eben nicht! Das waren auch noch Kinder!
Und das Gegenstück dieser autoritären Seite?
Innerhalb des staatlichen Gefüges gibt es auch immer wieder Menschen und aus öffentlicher Hand gestützte Institutionen wie etwa die Jugendgerichtshilfe, die sich total engagieren. Und eben – wie im Film gezeigt – Anwältinnen und Anwälte oder Hilfsorganisationen wie die fiktive „Bandiera Rossa“. Diese unterstützende Seite aber besteht vor allem aus einzelnen oder persönlichen Initiativen.
Haben diese autoritären Elemente bei den Jugendlichen vor allem das Vertrauen in unsere Gesellschaft erschüttert?
Das ist tatsächlich die Frage, die ich mir stelle und die sich auch der Film stellt. Anhand von Antons Schicksal habe ich mich gefragt, was aus jemandem wird, der sowas erlebt, der Gewalt erlebt, der Ungerechtigkeit erlebt und zwar strukturell, systematisch von Seiten staatlicher Organe, dem also keine Gerechtigkeit widerfährt. Und der dadurch einen Rückschlag erfährt in seinem Aufbruch ins Erwachsenenleben. Der kriegt eins auf den Deckel, strauchelt, rappelt sich wieder auf und startet neu durch – nun aber gezeichnet. Und das ist nicht nur ein Kompromiss, eine Niederlage, er muss sich mit etwas arrangieren, mit dem er sich nicht arrangieren wollte. Mit Ohnmacht und Ungerechtigkeit. Welches Vertrauen hat der in seinen Staat?
Diese Frage wird im Film dann nicht nur über diese staatlichen Organe diskutiert, sondern auch über die Eltern, Freunde und Kollegen, mit deren Haltungen Anton konfrontiert wird.
Ich wollte erzählen, wie Anton immer wieder erlebt, dass ihm misstraut wird, nicht geglaubt wird. Dieses permanente Nicht-Gehörtwerden – wie fühlt er sich dabei? Hinzu kommt, dass er sich einem Trauma stellen muss, das er selbst eigentlich gar nicht wahrhaben will. Um dies erlebbar zu machen, nehmen wir konsequent nur Antons Perspektive ein. Und ich bin meinen Redakteuren Christian Granderath und Sabine Holtgreve dankbar, dass sie diesen Weg mitgegangen sind. Okay, Eltern, Polizei usw., alle haben ihre eigene Perspektive auf das Geschehen, aber die interessiert mich jetzt nicht. Ich wollte sagen können: Anton, wir hören dich, wir erzählen deine Sicht.
Und in seiner Sicht erscheint das Gefühl, einer Systematik ausgeliefert zu sein, im Laufe des Films immer deutlicher. Was macht das mit ihm?
Anton will kein Opfer sein, das ist nicht sein Selbstbild, aber er muss seine Ohnmachtserfahrung, die Demütigung wieder aus sich herausholen, bloßlegen. Und dabei wird ihm immer klarer, dass die erfahrene Gewalt kein Zufall ist, kein Einzelfall, und dass es kaum Sinn hat, sich dagegen zu wehren. Zumindest wird ihm davon abgeraten. Und er fragt sich ganz normal: Wie kann das sein? Von diesem Erleben systematischer Gewalt haben mir viele Betroffene erzählt. Ich bin immer sehr misstrauisch, wenn es um so extreme Positionen geht, aber mir wurde nicht nur von den Betroffenen selbst berichtet, sondern auch von einer wunderbaren Anwältin, die ich im Zuge der Recherche kennenlernen durfte. Sie engagiert sich außerordentlich, hat schon in ihrer Ausbildung angefangen, sich auf Jugendstrafrecht zu spezialisieren, und hat mir viele beispielhafte Fälle genannt.
Zudem gibt es die überaus lesenswerte Studie „Gewalt im Amt“ von Laila Abdul-Rahman, Hannah Espín Grau, Luise Klaus und Tobias Singelnstein. Die Arbeit ist mehrere hundert Seiten lang und beschreibt das Thema Polizeigewalt aus verschiedenen Perspektiven, unter anderem, was die Opfer von Polizeigewalt erleben, wenn sie sich dagegen zu wehren versuchen. Strafverfahren wegen rechtswidriger Gewaltausübung seitens der Polizei werden größtenteils wieder eingestellt, heißt es da. Im Jahr 2021 war das in 93 Prozent der Verfahren der Fall. 93 Prozent! Zahlen und Fakten sprechen Bände. Die Studie wird mit einem schönen Satz der Soziologin Teresa Koloma Beck eingeleitet, der sinngemäß lautet: Wie ein Stein, der ins Wasser fällt und Wellen erzeugt, die irgendwo entfernt Linien im Sand verändern können, geht Gewalt über den Moment der zugefügten Verletzung hinaus und prägt die Struktur der Gesellschaft selbst.
Es gibt im Film ja auch Figuren, die vertrauensbildend auf Anton wirken, die Anwältin natürlich, dann Merle von „Bandiera Rossa“ oder der Koch Otto, Antons Chef. Der erzählt ihm sogar von seinen Demoerfahrungen in Brokdorf – eine echte Brücke in die andere Generation.
Diese Figuren gibt es natürlich auch. Mit der Entscheidung für nur eine – Antons – Perspektive laufen wir Gefahr, einseitig zu werden. Wir wollten darüber hinaus nicht den Eindruck entstehen lassen, dass Anton larmoyant ist. Ist er ja auch nicht. Er versucht wiederholt, in sein altes Leben zurückzukehren, aber es wird ihm nicht leicht gemacht. Und dann gibt es diese Brücken-Figuren, die uns für ihn hoffen lassen. Es ist ein Balanceakt. Manchmal ist eine allzu große Ausgewogenheit nicht förderlich, um Diskussionen anzuregen.
Heißt der Film „Polizei“, weil dieser Titel nochmal die Frage unterstreicht, ob da eine gewisse Systematik dahintersteckt?
Ja, definitiv. Aber es gibt auch noch einen weiteren Grund: Mit Christian Granderath und Peter Hartwig habe ich vor 25 Jahren „Die Polizistin“ gemacht. Der Film unter der Regie von Andreas Dresen erzählt das System aus einer ganz anderen Perspektive, nämlich der einer jungen Streifenpolizistin.
„Die Polizistin“ schlägt tatsächlich einen ganz anderen Ton an, nimmt einen ganz anderen Blick ein auf die Polizei mit einer sehr hoffnungsvollen Figur.
Naja, auch bei ihr geht’s ums Arrangieren. Ihr wird ja von den Kollegen immer wieder empfohlen: Du musst dir ’ne dickere Haut zulegen. Aber sie kann das einfach nicht. Sie geht mit Blessuren, aber erhobenen Hauptes aus der Geschichte. Sicher hat es die Art von Gewalt, über die wir heute erzählen, auch schon damals gegeben. Vielleicht nicht in dieser Form. Aber klar: Die Entscheidung dafür, im Film „Polizei“ quasi die entgegengesetzte Perspektive einzunehmen, ist auch ein Verweis auf „Die Polizistin“ von damals und auf uns selbst. Auch wir haben uns verändert.
Laila Stieler gehört zu Deutschlands renommiertesten Drehbuchautorinnen und -autoren. Ihre einfühlsamen und dem Realismus verpflichteten Stoffe sind geprägt von Figuren, die sich zwischen Anpassung und Rebellion bewegen, die von gesellschaftlichen Umbrüchen betroffen oder sozialem Druck ausgesetzt sind. Unter anderem Maria Schrader, Doris Dörrie oder Tim Trageser verfilmten ihre Bücher – mit bisher neun gemeinsamen Arbeiten prägt ihr Schaffen aber insbesondere die Zusammenarbeit mit Andreas Dresen. Unter den zahlreichen Auszeichnungen für Laila Stieler befindet sich u. a. ein Deutscher Filmpreis für „Gundermann“ (2019), ein Silberner Bär für „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ (2022) sowie Grimme-Preise für „Die Polizistin“ (2000) und „Tina mobil“ (2022).
„Mein Wunsch ist, dass dieser Film Debatten anstößt und Empathie weckt, ohne belehrend zu sein“
Statement von Buket Alakuş (Regie)
Das Drehbuch „Polizei“ von Laila Stieler ist mit Herzblut und Handwerk entstanden. Es greift ein gesellschaftskritisches Thema auf – komplex und unbequem zugleich -, das Laila und ich gemeinsam mit unserem Produzenten Peter Hartwig und der Redaktion Sabine Holtgreve und Christian Granderath in die Öffentlichkeit tragen wollen.
Im Zentrum steht Anton – ein junger Mann aus der Mitte der Gesellschaft, der zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Er gerät in ein Netz aus Polizeigewalt und einem Rechtssystem, das ihm kaum Luft zum Atmen lässt. Sein Überleben sichert er nur durch Verdrängung. Doch eine Anzeige zwingt ihn, sich zu erinnern, zu handeln – und dabei nicht nur um seine Existenz, sondern auch um seine innere Balance zu kämpfen. Antons Weg zurück ins Leben ist schmerzhaft, widersprüchlich, voller Fehltritte – und doch steckt in ihm ein unerschütterlicher Lebenswille. Erst, als er sich seinem Albtraum stellt, findet er Kontrolle und Würde zurück – und die Kraft, anderen zu helfen, die Ähnliches erlitten haben.
Dank der eindringlichen Darstellung von Levy Rico Arcos und Petra Schmidt-Schaller, die die Zerrissenheit von Mutter und Sohn mit Wahrhaftigkeit und Tiefe verkörpern, wird der Film zu einer Erfahrung, die zugleich berührt und aufwühlt. Dieser Film will keine einfachen Antworten geben. Er erzählt vom Wechselspiel zwischen Verdrängung und Erinnerung, von der Zerreißprobe zwischen Angst und Lebenshunger – und von der mühsamen, aber möglichen Selbstbefreiung. Mein Wunsch ist, dass dieser Film Debatten anstößt und Empathie weckt, ohne belehrend zu sein. Er soll Betroffene sichtbar machen – nicht als Opfer, sondern als Menschen mit Würde und dem Mut zur Selbsthilfe. Film kann Wandel anstoßen, wenn er zuhört und die wahren Geschichten zeigt. Gerechtigkeit beginnt dort, wo wir bereit sind, auch den leisen Stimmen hinter schweren Erfahrungen Raum zu geben.

Nach ihrem Debütspielfilm „Anam“ (2000) hat die Regisseurin Buket Alakuş zahlreiche Spielfilme für Film und Fernsehen realisiert. 2017 inszenierte sie mit „Eine Braut kommt selten allein“ erstmals ein Buch von Laila Stieler. Zuletzt verantwortete die Regisseurin den Münster-„Tatort: Es lebe der König“, eine Episode der ARD-Reihe „Harter Brocken“ sowie die Netflix-Produktion „She Said Maybe“.
Rollenprofil Anton Stern
Gewalttätig gegen die Polizei soll er gewesen sein, Landfriedensbruch, so sagt es die Anklageschrift, die ihm unvermutet ins Haus geflattert ist. Der Kochlehrling Anton Stern erinnert sich, dass er mit seiner Clique feiern wollte, erster Maifeiertag nach Corona. Die Polizei sagt, er habe Flaschen geworfen und Widerstand geleistet. Muss ja so sein, es war schließlich der 1. Mai. Wer da hingeht, will Randale machen. Das glauben jedenfalls der Mann von der Jugendgerichtshilfe und erstmal auch Antons Anwältin. Kann die ihm überhaupt helfen, wie sie da sitzt zwischen unordentlichen Aktenstapeln in ihrem schmucklosen Büro? Deren beste – und einzige Qualifikation – scheint zu sein, dass sie Antons Mutter kennt.
Auf einmal ist wieder alles Stress: Antons Chef, der verständnisvolle Koch, der ihn wegen einer kleinen Panikattacke nach Hause schickt. Sein Vater, der nur zu Besuch kommt, wenn’s brennt. Seine Freundin, die ihn ihren Eltern vorstellen und immer alles wissen will, ausgerechnet dann, wenn er selbst gar nichts mehr weiß. Seine Mutter, die Hilfe mit Vorwürfe machen verwechselt. Aber die ist jetzt wenigstens da. Anton ist sich sicher: Nicht er hat Beamte angegriffen, andersherum wird ein Schuh draus. Aber wem kann er vertrauen, nach dem, was ihm passiert ist?

„Irgendwie bleibt Corona ein steter Bestandteil in unserer jetzigen Welt, weil es in den Köpfen der Menschen geblieben ist“
Gespräch mit Levy Rico Arcos
Sie spielen mit Anton Stern die Hauptfigur, an der insbesondere das Thema der Polizeigewalt gegen Jugendliche diskutiert wird. Anton Stern ist genau in Ihrem Alter – wie würden Sie die Figur beschreiben? Was ist das für einer?
Anton wirkt gar nicht so crazy speziell. Ich glaube nicht, wenn er einen Raum betritt, dass alle auf einmal auf ihn zeigen und sich fragen, was das für ein geiler Typ ist. Anton lebt einfach sein Leben und kann das auch genießen. Allerdings hat er seine Zeit auch mal mit falschen Freunden verbracht, einfach weil er teils besser darin ist, anderen zu helfen als sich selbst. Und dadurch rücken oft seine Bedürfnisse in den Hintergrund, ohne dass er es wahrhaben will, auch weil er seine Eltern nicht enttäuschen und keine Extralast sein will.
Er ist in diesen Auslöser-Moment bei der Demo reingerutscht, in dem er sich provozieren lässt. Was geschieht da mit ihm?
Er war zur falschen Zeit am falschen Ort und hatte keine bösen Absichten. Er wollte mit seinen Freunden Spaß haben. Als dann seine Freundin umgerempelt wurde, hat er leider falsch reagiert. Dazu war er betrunken und hat vielleicht gegenüber den Polizisten irgendwie extra aggressiv gewirkt – was natürlich die Gewalt gegen ihn in keiner Weise rechtfertigt. Niemals hätte er an all die Auswirkungen gedacht, die das dann nach sich zog.
Sind Sie in Ihrem Leben in irgendeiner Form schon mal mit Polizeigewalt konfrontiert gewesen?
Also persönlich ist mir sowas noch nie passiert. Aber ich bin ja in Berlin aufgewachsen, hier gibt es viele Demos und viele Demos, die auch leider manchmal ausarten. Deswegen kenne ich aus dem Bekanntenkreis ähnliche Storys, in denen jemand zur falschen Zeit am falschen Ort war und sich dann daraus etwas unerwartet Großes entwickelt hat. Und es ist ja wirklich für beide Parteien scheiße: Die Polizei hat keinen Bock darauf, die Demonstrierenden haben keinen Bock darauf.
Dazu kommt, dass ja auch Polizei und Rettungskräfte auf Demos zunehmend Gewalt ausgesetzt sind – das allgemeine Aggressionslevel scheint zu steigen.
Ja, und die sind es ja auch nicht alltäglich gewohnt, dass tausend Leute auf sie zustürmen, teils aggressiv und angetrunken. Und durch diese ganzen Vorfälle und Geschichten sind natürlich beide Parteien irgendwie nervös, und diese Anspannung führt dann zu Unsicherheiten und gleichzeitig zu Aggression, weil man der gegenüberliegenden Partei nicht vertraut und dann übergriffig handelt, sei es physisch oder psychisch.
Man würde sich für jemanden wie Anton wünschen, dass da etwas besser differenziert würde… Wie geht denn Anton mit all diesen Erfahrungen um?
Ohne das Ende verraten zu wollen, aber Anton trägt wohl einige Narben davon und findet trotzdem seinen Weg. So etwas kann ja komplett in die andere Richtung gehen, dass jemand nicht mehr aus dem Loch herausfindet. Aber Buket Alakuş hat ihn immer beschrieben als Stehaufmännchen, und ich finde, das beschreibt es auch ganz gut.
Der Film erzählt nebenbei auch von einem gängigen Bild der Millennials aus Perspektive der Elterngeneration. Begegnet Ihnen das selbst auch?
Auf jeden Fall. Das kennt man ja, dass viele ältere Menschen auf unserer Generation herumhacken. Wir würden nicht mehr richtig arbeiten wollen und all das. Aber das ist völliger Quatsch. Unsere Elterngeneration war einfach zum Teil leider noch schlechteren Arbeitsbedingungen ausgesetzt, und sie sollte sich eher glücklich schätzen, dass mittlerweile die Jugend dagegen arbeitet und sich für ein faireres System einsetzt.
Die Corona-Zeit ist ein weiteres Thema, das im Film zwischen den Generationen vielschichtig präsent erscheint. Wie haben Sie persönliche diese Zeit wahrgenommen?
Ich muss ehrlich gestehen, dass ich damals keine Probleme hatte, mit der Corona-Zeit klarzukommen. Ich war ungefähr 13, und klar, das war gerade die Zeit, in der ich langsam angefangen hatte, mit Leuten rauszugehen. Die Einschränkungen habe ich aber nicht als schlimm empfunden. Aber natürlich kenne ich Leute aus der Schule, die mentale Probleme davongetragen haben wegen der fehlenden persönlichen Kontakte. So oder so: Irgendwie bleibt Corona ein steter Bestandteil in unserer jetzigen Welt, weil es in den Köpfen der Menschen geblieben ist.
Empfinden Sie es auch so, dass Anton großem gesellschaftlichen und elterlichem Druck ausgesetzt ist?
Absolut. Oft sind es keine bösen Absichten, aber viele ältere Menschen, habe ich das Gefühl, denken grundsätzlich, sie sind schon länger auf der Erde, deswegen wissen sie besser Bescheid über viele Dinge. Nur: Das ist ja manchmal gar nicht das Thema! Es geht ja nicht immer darum, besser Bescheid zu wissen und zu urteilen, sondern manchmal schlicht darum, einer Person zu helfen, egal, in was für eine vielleicht dumme Situation sie gerade geraten ist. Es entsteht großer Druck, wenn du ständig das Gefühl hast, ältere Menschen beziehungsweise die Eltern zu enttäuschen, weil du etwas falsch machst, du keine Hilfe von denen bekommst, sondern verurteilt wirst. Antons Mutter verhält sich nicht eins zu eins so, aber ich finde schon, dass sie in manchen Situationen hätte anders handeln sollen – nicht so selbstzentriert, sondern mehr mit Fokus auf dem Großen und Ganzen.
So etwa, wie sie ganz nebenbei fragt, ob es Anton eigentlich reicht, Koch zu sein? Da schwingt ja eine klare Erfolgserwartung mit.
Ja, eben. Ich kenne das gut, dass sich Leute unter Druck setzen, ihre Eltern stolz zu machen und dabei gar nicht darauf achten, was sie selbst eigentlich glücklich macht oder worauf sie Bock haben.
Wie geht es denn Ihnen persönlich mit Druck – nach „Sonne und Beton“ ist das Ihre zweite Hauptrolle. Haben Sie Erwartungsdruck empfunden?
Nicht wirklich. Ich hatte großen Respekt vor der Rolle, weil sie sehr komplex ist und wirklich komplett im Mittelpunkt steht. Du weißt, du bist jeden Drehtag da, in jeder Szene – dann ist es schon krass, wenn du den Erwartungen nicht gerecht wirst. Aber ich habe mich immer wieder daran erinnert, mit wie vielen anderen ich im Casting war – die Produktion hätte sich nicht für mich entschieden, wenn sie nicht etwas in mir gesehen hätte. Mit dem Gedanken bin ich da reingegangen. Ich hatte eine super Regisseurin, super Produzenten, und wirklich alle am Set waren echt lieb zueinander und zu mir – ich habe mich sehr wohl gefühlt, und ich glaube, das ist das Wichtigste.
Trauma, Flashbacks, Panikattacken – waren diese fragilen Momente der Figur das Herausforderndste?
Klar, es ist schon irgendwie leichter zu spielen, gut gelaunt und lachend nach Hause zu kommen, als ein Trauma aufarbeiten zu müssen. In diese Stimmung muss man reinkommen, sich reinfühlen. Aber mit viel Vorbereitung, mit einer Menge Austausch und Kommunikation ging das sehr gut, und da hat mir das Team sehr geholfen und mir den nötigen Raum für die Vorbereitung gegeben.

Sein Debüt als Schauspieler absolvierte Levy Rico Arcos in einer der Hauptrollen in David Wnendts gefeiertem Film „Sonne und Beton“. Er gewann dafür nicht nur den New Faces Award 2023, sondern auch den Preis des Saarländischen Rundfunks beim Günther-Rohrbach-Preis. Nach einem Auftritt in Karoline Herfurths „Wunderschöner“ übernahm er in „Polizei“ seine zweite tragende Hauptrolle.

Rollenprofil Katja Stern
Katja Stern hat für ihren Sohn immer nur das Beste gewollt. Aber das hat sie ja nicht einmal für sich selbst bekommen. Ihre Ehe ist gescheitert, auch wenn es nicht zu einem Rosenkrieg gekommen ist. Anton hat bei ihr gelebt, bis er Hals über Kopf aus dem Nest geflohen ist. Hauptsache nicht mehr zu Hause, auch wenn er dafür in ein Gartenhäuschen ziehen musste. Das hat Katja schon verletzt. Jetzt braucht Anton sie und kommt wieder an, nachdem er sich wochenlang nicht gemeldet hat. Typisch, sonst immer am Handy, aber mal anrufen? Wenigstens hat er ihre Adresse nicht vergessen.
Sie hat es selbst schwer genug gehabt nach der Trennung. Hat sich selbstständig gemacht, um jetzt „Idioten“ zu coachen, wie Anton es nennt. Dass Antons Vater Arzt ist, macht es nicht einfacher. Immer das Erfolgsmodell vor der Nase. Aber eigentlich ist ihr Ex-Mann ok. Zum Glück, denn eines werden sie bleiben: Vater, Mutter, Kind.
Vielleicht ist ein bisschen Gegenseitigkeit ganz gut. Die neu gewonnene Zeit mit Anton hilft Katja auch, den Blick auf sich selbst zu verändern. Langsam sickert es bei ihr ein: Vertrauen gibt es nicht umsonst. Manchmal muss man es mit Ärger bezahlen.


„Es ist schlicht zu einfach, wenn wir unsere Kinder nur aus unserem Erleben heraus angucken und nicht aus ihrem“
Gespräch mit Petra Schmidt-Schaller

In „Polizei“ herrschen vor allem zwei Themen vor: die Auswirkungen der Corona-Zeit auf Jugendliche, aber auch generell auf die Gesellschaft, sowie das Thema Polizeigewalt. Beides wird im Buch verknüpft über die Figur des 20-jährigen Anton. Sie spielen Antons Mutter, Katja Stern, die eine sehr wichtige Funktion hat.
Sie schlägt die Brücke zu uns Älteren.
Wer ist diese Katja Stern? Wie würden Sie sie in Hinsicht auf Anton und seine Situation beschreiben?
Durch Gespräche mit der Autorin Laila Stieler und der Regisseurin Buket Alakuş wurde diese Figur in der Vorbereitung viel tiefer und viel wärmer und emotionaler für mich, als ich sie zuerst gelesen hatte. Zunächst war Katja für mich erst einmal eine Frau, die ein Standing hat als Business-Coach und sich als Selbständige durchschlägt. Sie hat einen toughen Zugriff aufs Leben und macht Yoga als Ausgleich. Katja ist irgendwann an einen Punkt gekommen, an dem sie gemerkt hat, dass das Leben so, wie sie es als Familie führen, nicht gut ist – Corona wird dafür sicherlich ein Zünder gewesen sein. Das hat diese kleine Familie auseinandergerissen. Ich bin im wahren Leben auch eine getrennte Person und kann das sehr gut nachvollziehen. Und da gibt es ja auch verschiedene Abstufungen. Hier ist es so gelagert, dass sich Nadja getrennt hat, der Vater aber immer wieder diese Familie sucht, die Katja überhaupt nicht will. Dieser Zwiespalt, dieses Zerrissene legt sich natürlich auch auf Anton. Und so begleiten die beiden Eltern mit einer gewissen Hilflosigkeit diesen jungen Mann beim Erwachsenwerden. Für mich wuchs diese Mutterfigur im Laufe des Drehs in eine durchlässige Frau, der man ansehen kann, wie schwer das ist: wenn man für sich einsteht und trotzdem für das Kind da sein will, wenn man einen jungen Menschen ins Erwachsenenleben begleiten will und die Hauptaufgabe dabei Loslassen ist.
Katja Stern kann diese Situation deutlich sehen, hat aber auch eine andere Seite - nämlich, dass sie sich von ihrem Sohn alleingelassen und in ihrer Mutterrolle nicht gesehen fühlt.
Ja, genau. Sie ist nicht komplett die aufopfernde Mutter, sondern sie sagt: „Du, ich bin auch ein Mensch. Ich existiere, und es ist schon schön, wenn wir uns ab und zu mal sehen und hören würden.“ Das gibt sie ihm ja in ihrer ersten gemeinsamen Szene im Film zu verstehen. Anton kann darauf gar nicht reagieren, weil er ja gekommen ist, um ihr diese Anklageschrift zu zeigen. Wir sehen in dieser Szene sehr gut, dass zwischen den beiden eigentlich eine starke Bindung herrscht. Die mag jetzt nicht komplett okay auf allen Ebenen sein, aber die beiden sind verbunden – und zwar mehr als ich anfangs gedacht hatte. Das fand ich so spannend bei diesem Film herauszuarbeiten: wie schwer es ist, ihn loszulassen und den Weg zu akzeptieren, den Anton einschlagen will. Es geht hier um das Kind und nicht nur um die Mutter. Das ist eine sehr schöne Mutter-Kind-Beziehung, die da erzählt wird.
Gerade auch, weil die Mutter ja trotzdem ambivalent gezeichnet ist – wie sie etwa über Antons Generation herzieht, die so fragil sei, die immer alles bekomme, die für nichts habe kämpfen müssen. Da ist sie auch durchaus ein bisschen unfair, oder?
Ja, aber da ist es auch wichtig, den Kontext der Szene zu sehen. Sie stehen da zu dritt, mit Antons Vater. Und versteckt gibt sie mit diesen Worten vor allem ihm einen mit. Ich denke aber, sie bedauert es, diese Sätze aus Wut und Ohnmacht heraus gesagt zu haben. Ohnmacht ist eine von Katja Sterns Kernerfahrungen im Film. Später in Bezug auf die Gewalt, die ihrem Sohn widerfahren ist, auf den Schmerz, den sie da einatmen muss. Aber auch in dieser Szene, weil sie nicht mehr wirklich rankommt an ihn und dann natürlich gegen den Vater schießt. Das ist eine sehr gut geschriebene Szene, denn Katja kommt ja aus dieser Coaching-Welt, in der es viel darum geht, wie komme ich in meine Kraft – das ist ihr Narrativ. Nur: In der Phase, in der Anton steckt, da ist natürlich die Mutter als Coach leider Gottes die Falscheste.
Immer wieder scheint im Film der Bezug der jungen Generation zur überwundenen Corona-Zeit durch. Auch der Moment auf der Demo wirkt wie eine Folge aus dieser Zeit. Neigt die ältere Generation dazu, zu vergessen, was die Jungen da durchgemacht haben?
Ja, weil wir unsere Kinder viel zu selten in ihrem eigenen Kontext sehen. Meine Tochter gehört komplett in diese Generation, die Corona mitgemacht hat, die aber auch diese ganze digitale Welt als richtige Welt begreift, also die sich dadurch auch spürt. Und das ist etwas, das für mich teilweise unerträglich ist mit anzusehen. Klar, ich kann nicht leugnen, dass auch ich bei bestimmten Handyclips etwas spüre. Aber es ist natürlich nicht so, als würde ich es wirklich erleben. Und auch der Frust über dieses unterschiedliche Erleben gehört zu dem Kontext, in dem Katja diesen Spruch zu Anton bringt. Es ist schlicht zu einfach, wenn wir unsere Kinder nur aus unserer Vergangenheit oder unserem Erleben heraus angucken und nicht aus ihrem. Und Corona war ein riesiger Einschnitt – auf so vielen Ebenen.
Der Film deutet an, dass sich der Druck jener Corona-Jahre auf Kinder und Jugendliche in dieser übermäßigen Polizeigewalt in gewisser Weise fortsetzt. Setzen wir das Vertrauen der jungen Generation in unsere Gesellschaft dauerhaft aufs Spiel?
Ja, und ich verstehe die Entwicklung der Katja Stern sehr gut, wie sie das alles erst einmal gar nicht glauben kann. Und es ist ja auch krass, wie schnell man sich den Vorwurf des Landfriedensbruchs einhandeln kann. Wie im Film reicht es, in einer Demo zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort sich aufzuhalten – und plötzlich bist du vorbestraft. Da ist ja schon die Frage, wie kann das gesamte Justizsystem da noch genauer hinschauen? Du hast da Jugendliche sitzen, die von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch gemacht haben, vielleicht eine Situation falsch eingeschätzt haben und plötzlich auf einer Vorstrafe sitzen, die sich auf den gesamten Verlauf ihrer Ausbildung und ihres Lebens auswirken könnte. Das wusste ich vor diesem Film nicht, wie schnell das gehen kann.
Es gibt im Film als Kontrast zum Konflikt auch einige wirklich schöne, warme Momente zwischen Tochter und Sohn – wie war denn die Arbeit mit Ihrem jungen Kollegen Levy Rico Arcos?
Die Arbeit mit ihm war sehr besonders, weil er so wunderbar neugierig und offen ist. Hieß es früher „da geht ein Stern auf“, dann passt das auf Levy. Wenn er so weitermacht, wird das einer der Schauspieler, für den Menschen gezielt und gerne einschalten, weil man durch ihn Geschichten erzählt sieht. Es hat richtig viel Spaß gemacht, mit ihm zu drehen. Ich fand, dass er noch die Augen eines Kindes hat – ich würde ihm wünschen, dass er das behält, diese Neugier und Offenheit.
Wie würden Sie die Arbeit mit Buket Alakuş beschreiben?
Sie gibt sich nicht damit zufrieden, wenn eine Szene läuft und alle denken: „Super, jetzt haben wir’s!“ Sie sucht noch nach einer tieferen Ebene, nach Zwischentönen, die inspiriert sein können durch ein größeres Bild, das sie aufmacht. Sie fragt sich immer wieder: Warum braucht es jetzt diese Szene hier wirklich – im Film ebenso wie in der Welt? Und das fand ich bezeichnend, weil es sehr viele gibt, die diesen Extraschritt nicht gehen. Diese plötzliche Tiefe, die daraus entsteht, bietet dann nochmal einen anderen Spielansatz. Das ist unglaublich schön und bereichernd.
Die Schauspielerin Petra Schmidt-Schaller studierte bis 2005 an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig und erlebte 2007 mit Rainer Kaufmanns Martin-Walser-Verfilmung „Ein fliehendes Pferd“ ihren filmischen Durchbruch. Seither spielt sie regelmäßig Hauptrollen in Kino und Fernsehen, u. a. zwischen 2013 und 2015 als Hauptkommissarin Katharina Lorenz für sechs Episoden im NDR Bundespolizei-„Tatort“. 2021 erhielt sie den Deutschen Fernsehpreis für ihre Hauptrolle in der Serie „Die Toten von Marnow“ (NDR/ARD Degeto Film). Mit „Eine Braut kommt selten allein“ spielte sie 2017 bereits im ersten gemeinsamen Film von Laila Stieler und Buket Alakuş die Hauptfigur.

„Heute geht es wieder mehr darum, Härte zu symbolisieren“
Gespräch mit Laila Abdul-Rahman, Koautorin der 2023 erschienenen Studie „Gewalt im Amt. Übermäßige polizeiliche Gewaltanwendung und ihre Aufarbeitung“
Die 500 Seiten umfassende Studie „Gewalt im Amt“ hat sich erstmals ausführlich mit dem Thema übermäßiger polizeilicher Gewalt auseinandergesetzt. Zu welchen Ergebnissen ist sie gekommen?
Ausgangspunkt waren für uns 2018 u. a. die Statistiken der Staatsanwaltschaft, die belegten, dass Verfahren gegen Polizeibeamte wegen Gewaltausübung mit einer ungewöhnlich hohen Quote von über 90 Prozent eingestellt werden. Eine Ausgangsfrage lautete also, woran das eigentlich liegt und ob es dafür auch strukturelle Gründe gibt. Grundlagen sind eine Online-Betroffenenbefragung sowie mehr als 60 Interviews mit Perspektiven aus der Polizei, Justiz und Zivilgesellschaft. Verkürzt gesagt konnten wir mit Bezug auf die Frage der rechtlichen Aufarbeitung übermäßiger polizeilicher Gewaltanwendungen tatsächlich verschiedenste strukturelle Problemfelder identifizieren. Es beginnt schon mit dem, was auch der Film „Polizei“ erzählt, nämlich dass wir oftmals eine schwierige Beweissituation haben. Selten liegen objektive Beweismittel vor, und ganz häufig stehen Betroffene mit ihrer Aussage allein da, während Polizeibeamte immer mindestens zu zweit unterwegs sind. Entscheidend ist dann, wie diese Aussagen von der Staatsanwaltschaft bewertet werden. Unsere und auch andere Studien zeigen, dass Polizeibeamte häufig als sehr glaubwürdige Zeugen wahrgenommen werden. Das ist auch vor Gericht so: Polizisten sind strukturell schon deshalb im Vorteil, weil sie wissen, worauf es rechtlich ankommt. Zudem sehen wir eben auch ein gewisses institutionelles Näheverhältnis, das aus der engen Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei resultiert. Und das kann natürlich bei Fällen, in denen Polizeibeamte zu Beschuldigten werden, auch problematisch sein. Das ist nur eine kleine Auswahl an strukturellen Aspekten, die wir festgestellt haben.
Finden Sie in der Geschichte von Anton im Film „Polizei“ die Erlebnisse von Betroffenen wieder, mit denen Sie gesprochen haben?
Wie der Film den Sachverhalt schildert, stellt er eine realistische Fallkonstellation dar. Auch über posttraumatische Belastungsstörungen ist uns berichtet worden. Besonders interessant an dem Film finde ich aber, dass er komplett aus der Betroffenenperspektive erzählt. So hören wir beispielsweise gar nicht, was die Polizeibeamten sagen, sondern es geht wirklich darum, einmal nachzuvollziehen, wie diese erlebte Gewalt für den einzelnen Betroffenen wirkt und welche großen Belastungen sie mit sich bringen kann – nicht allein die Gewalt, sondern auch dieses ganze Verfahren und die damit verbundene Unsicherheit. Das ist etwas, das uns sehr häufig so geschildert wird, ebenso wie teils eine große Enttäuschung, wenn man sich dann anwaltliche Beratung holt und feststellt, man hat vielleicht keine guten Aussichten, weil man wirklich über eine sehr geringe Beschwerdemacht verfügt.
Lässt sich daraus auch die Vermutung ableiten, dass eine gewisse Willkür in der Erteilung von Anzeigen als eine Art disziplinarisches Instrument verwendet wird?
Na ja, geschildert wurden uns auch aus der Polizei heraus die Praxis „prophylaktischer“ Anzeigen, dass also im Zweifelsfalle erstmal eine Anzeige geschrieben wird, um sich vielleicht etwas abzusichern, sich in eine bessere Position zu bringen. Das ist auch eine polizeikulturelle Frage zu entscheiden, sich auf gar keinen Fall irgendetwas gefallen zu lassen und so bei jedem kleinsten Vergehen, z. B. Beleidigungen, sofort eine Anzeige zu schreiben. Natürlich ist das auch ein Mittel der Machtdemonstration. Man könnte an sowas ja auch grundsätzlich anders rangehen, und zum Teil schilderten uns ältere Polizeibeamten, dass das früher anders gemacht wurde. Heute geht es wieder mehr darum, Härte zu symbolisieren. Und natürlich erzielt man dadurch auch eine gewisse abschreckende Wirkung.
In welchen Bereichen sind denn Jugendliche besonders betroffen von übermäßiger Polizeigewalt?
Natürlich sind Jugendliche immer in einer vulnerablen Position, aber es ist kein reines Jugendphänomen. Bei Demonstrationen betrug der Altersdurchschnitt der Betroffenen in unserer Studie 25 Jahre. In anderen Situationen wie beispielsweise Personenkontrollen, zu denen auch Racial Profiling gehört, lag er mit 30 Jahren schon höher. Und selbst bei Demonstrationen kann das variieren: Wir erinnern uns vielleicht an Stuttgart 21, wo sich auch ältere Menschen an den Demos beteiligt haben, während etwa im Fußballkontext vorrangig junge Männer betroffen sind. Hier im Film geht es ja um eine linke Demonstration, und Anton verortet sich ja nicht mal politisch, sondern er hält sich dort eigentlich nur zum Feiern auf. Viele Befragte schilderten uns ebenfalls, als zunächst Unbeteiligte bei Großveranstaltungen Gewalt erfahren zu haben, und das ist wieder eher jugendtypisch, schneller in solche Situationen reinzugeraten und gar nicht mit der Bedrohung und etwaigen Auswirkungen zu rechnen. Wie der Film zeigt, ist es eine traumatische Erfahrung, solche übermäßige Gewalt schon in jungen Jahren zu erleben. Was der Film auch sehr treffend schildert, ist die daraus resultierende Enttäuschung in das Rechtssystem oder ins System generell. Wie kann das überhaupt sein, dass sich Polizei so verhält? Und über die Frau aus der linken Szene erfahren wir ja auch von den systemischen Problemen. Das verweist ganz richtig auf die Frage, was das eigentlich langfristig mit der Einstellung zum Rechtsstaat macht – das hören wir auch von Betroffenen. Das ist nicht jugendspezfisch, sondern diese Vertrauensverluste erleiden die meisten Betroffenen.
Was sind Ursachen für übermäßige polizeiliche Gewalt?
Es gibt individuelle Gründe und organisationale Gründe. Auf einer individuellen Ebene zum Beispiel gibt es Personen, die schneller als andere Gewalt anwenden, sehr hart und autoritär auftreten, wie auch von den Polizeibeamten in den Interviews selber berichtet wird, nämlich die sog. „Widerstandsbeamten“. Das sind Beamte, die sehr häufig in Widerstandslagen kommen. In diesem Wort ist schon die Täter-Opfer-Umkehr direkt angelegt, indem die Verantwortung für eine Gewalteskalation immer bei den Betroffenen als „Widerständlern“ verortet wird. Sie sind dafür intern bekannt und erfüllen zum Teil eine organisationale Funktion, da durchaus manchmal Leute fürs Grobe gebraucht werden. Interessant ist hier die Frage, wie reagiert eine Organisation auf sowas, wird das toleriert oder wird auch versucht, dagegen vorzugehen? Auf der organisationalen Ebene spielt etwa eine Rolle, wie der Einsatz grundsätzlich geplant ist, und da gibt es unterschiedliche Deeskalations- und Eskalationsstrategien, die bestimmte Härte von Einsätzen vorgeben. Auch Führungskultur ist dabei natürlich ausschlaggebend.
Es stellt sich vermutlich immer die Frage der Verhältnismäßigkeit?
Ganz sicher. Im Film sehen wir einen Beamten auf den festgenommenen Anton einschlagen, da wird ganz klar gemacht, okay, hier, spätestens hier haben wir eine Gewaltanwendung, die wirklich ganz klar rechtswidrig ist. Aber was ist eigentlich mit dem ganzen Vorgang davor? Mir gefällt an dem Film die realistische Darstellung, dass auch der Betroffene selbst einen gewissen Anteil an einer Eskalation hat. Aber die entscheidende Frage lautet, wie reagiert man darauf? Wie wird die Verhältnismäßigkeit bewertet, von der Polizei, aber auch von der Justiz? Gerichtlich zum Teil noch strittig ist zum Beispiel der Einsatz von sogenannten Schmerzgriffen, die bei Demonstrationen häufig angewendet werden. Und das ist nicht nur eine juristische, sondern gesellschaftliche Frage: Wollen wir als Gesellschaft, dass die Polizei solche Schmerzgriffe anwendet? Welches Maß an Gewalt durch staatliche, öffentliche Stellen wollen wir als Gesellschaft tolerieren? Ein Ergebnis unserer Studie ist sicherlich die klare Erkenntnis, dass es echte öffentliche Debatten über diese Fragen braucht. Es kann nicht nur von der Polizei allein entschieden werden, welche Einsatzmittel, welche Techniken erlaubt sein sollten und welche nicht. Der Film „Polizei“ ist genau zu dieser Debatte ein schöner Beitrag.

Basierend auf den Daten dieser Studie promoviert die Diplom-Juristin und Kriminologin Laila Abdul-Rahman zurzeit an der Goethe-Universität Frankfurt zur Betroffenenperspektive übermäßiger polizeilicher Gewaltanwendungen.
„Polizei“ trägt ein ungemein wichtiges Thema mit sich: Was passiert mit unseren Heranwachsenden, wenn durch Polizeigewalt ihr Glaube an Demokratie und Gerechtigkeit verloren geht?
Statement von Peter Hartwig, Produzent
Mich interessieren Themen, die mich selbst berühren und die eine gesellschaftliche Relevanz haben. Filme wie meine Produktion „Systemsprenger“ können im Kleinen und im Großen das Bewusstsein schärfen, die Zuschauer mit gesellschaftlichen Themen im besten Sinne unterhalten und manchmal sogar Veränderungen in der Gesellschaft erwirken. Auch „Polizei“ ist so eine Geschichte – über eine Generation, die durch Covid auf so vieles Bedeutendes in einem nicht wiederholbaren Lebensabschnitt verzichten musste und die z. B. nicht ihren 18.Geburtstag feiern konnte. Jugendliche, die die Gesellschaft vielleicht in großem Maße verloren hat. „Polizei“ ist daher auch ein Film darüber, wie unsere Politik und Gesellschaft in Vielem Vertrauen verspielt haben, und trägt ein ungemein wichtiges Thema mit sich: Was passiert mit unseren Heranwachsenden, wenn durch Polizeigewalt ihr Glaube an Demokratie und Gerechtigkeit verloren geht, weil sie sich nicht verstanden fühlen und wenn die Gesellschaft nicht imstande ist, sie mit auf den Weg zu nehmen?
Das mit cineastischer Wucht geschriebene Drehbuch von Laila entspricht meinem Bedürfnis, solche Geschichten auch atmosphärisch für das Fernsehen zu erzählen. „Polizei“ hat für mich, Laila und Christian Granderath in gewisser Hinsicht einen Vorläufer - vor 25 Jahren entstand der vielfach preisgekrönte Film „Die Polizistin“, auch er stammt von der Autorin Laila Stieler und erzählte im Zentrum von einer Polizistin und Polizei von einer anderen Seite. Drehbücher von Laila sind nicht nur klug und präzise geschriebene „Anweisungen für die Regie“ (Wolfgang Kohlhaase) – sie sind auch so gestaltet und gedacht, dass Veränderungen schwer vorzunehmen sind. Das ist reizvoll und schwierig zugleich.
Mit frühestmöglicher Bindung unfassbar erfahrener Menschen in den wichtigen Gewerken konnten wir den kreativen Dialog lange genug vorher führen: Allen voran Buket Alakuş, die als Regisseurin, aber auch als Mutter eines Teenagers weiß, wovon wir hier sprechen. Ihr in diesem Projekt begegnet zu sein, ist eines von vielen Geschenken. In der Reihe meiner Arbeiten nimmt „Polizei“ einen sehr besonderen Platz ein, hier ist ein in meinen Augen sehr wichtiger Film gelungen. Er ist uns auch gelungen, weil die Menschen, mit denen wir uns umgeben haben, allesamt und immer ein großes Herz für die eigentliche Arbeit mitbringen. Gute Dinge entstehen immer dann, wenn man auch miteinander einen guten Ton anschlägt, alle auf die Reise mitnimmt und jeden einzelnen wertschätzt.
Peter Hartwig, dessen Produktion „Systemsprenger“ 2020 den Deutschen Filmpreis gewann, war mit seiner Kineo Film zuletzt Koproduzent von Andreas Dresens „Gundermann“ und Nicolette Krebitz‘ „A E I OU – Das schnelle Alphabet der Liebe“. Er produzierte Stephan Lacants Grimme-Preis-nominierten Fernsehfilm „Kalt“ und verantwortete als Produktionsleiter Andreas Dresens „In Liebe, Eure Hilde“. Zurzeit arbeitet er mit Kineo Film an den neuen Filmen von Katharina Bischof, Ulrike Tony Vahl und Leonie Krippendorff.
Impressum
Herausgegeben von Presse und Kommunikation / Unternehmenskommunikation
Redaktion:
Iris Bents, NDR/Presse und Kommunikation
Mitarbeit:
Nicola Sorgenfrey, NDR
Interviews:
Oliver Baumgarten
Rollenprofile
Sven Sonne
Gestaltung:
Ralf Pleßmann, NDR/Presse und Kommunikation
Bildnachweis:
NDR/Julia Terjung
NDR/Florian Liedel (Leila Stieler)
NDR/Arthur Mavi Berger (Buket Alakuş)
NDR/privat (Peter Hartwig)
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