
Polizeiruf 110: Böse geboren
Sonntag, 25. Mai, 20.15 Uhr, Das Erste
Anschließend in der ARD Mediathek

INHALT
Eva Greuner und ihr Sohn Milan leben in einem kleinen Haus am Rande Rostocks, direkt am Wald und weitestgehend isoliert von ihrer Umgebung. Das hat Eva so entschieden, denn ihr Sohn wird seit seiner Geburt aggressiv ausgegrenzt: Milan ist der Sohn eines mehrfachen Frauenmörders und das Ergebnis einer Vergewaltigung. Auch die Jägergemeinde, die seit längerer Zeit Ärger mit Wilderern und radikalen Tierschützern hat, beäugt den Außenseiter Milan misstrauisch. Als eine junge Aktivistin im Wald erschossen wird, liegt für die meisten auf der Hand, wer der Täter ist. Und auch an Eva nagt der Zweifel – zu was ist ihr Sohn fähig?
Während Katrin König und Melly Böwe den Verdächtigungen nachgehen, kommt überraschend Mellys Tochter Rose zu Besuch und will mehr über ihren leiblichen Vater erfahren. Doch Melly blockt ab, und Katrin fragt sich, was ihre Kollegin zu verbergen hat…

BESETZUNG
Katrin König
Anneke Kim Sarnau
Melly Böwe
Lina Beckmann
Henning Röder
Uwe Preuss
Anton Pöschel
Andreas Guenther
Volker Thiesler
Josef Heynert
Rose Böwe
Emilie Neumeister
Eva Greuner
Jördis Triebel
Milan Greuner
Eloi Christ
Julia Cobalt
Annika Kuhl
Tobias Cobalt
Nicki von Tempelhoff
Paul Cobalt
Jonathan Lade
u. v. m.
STAB
Regie
Alexander Dierbach
Buch
Catharina Junk, Elke Schuch
Bildgestaltung
Ian Blumers
Schnitt
Nina Meister, Nathalie Pürzer
Kostüm
Katja E. Waffenschmied
Maske
Jeanette Kellermann, Alexandra Lebedynski, Antonia Petschow
Casting
Mai Seck
Szenenbild
Sonja Strömer
Musik
Fabian Römer, Steffen Kaltschmid
Ton
Thorsten Schröder
Herstellungsleitung
Jeffrey Budd
Produktionsleitung
Mathias Mann, Daniel Buresch (NDR)
Produzentin
Iris Kiefer
Ausführende Produzentin
Nikola Bock
Redaktion
Philine Rosenberg
Drehzeit
06.03.2023 – 04.04.2023
Länge
89:00 Minuten
Drehorte
Hamburg und Umgebung
„Polizeiruf 110: Böse geboren“ ist eine Produktion der Filmpool fiction GmbH im Auftrag des Norddeutschen Rundfunks für Das Erste.

PODCAST

Der NDR „Polizeiruf 110: Böse geboren“ auch als Audio-Podcast in der ARD Audiothek!
Begleitend zum Krimi gibt es die neue „Polizeiruf 110“-Folge auch als Hörfassung – z. B. für unterwegs. Mit den Original-Stimmen aller Schauspielerinnen und Schauspieler sowie einer Erzählstimme, die durch die Handlung der Geschichte führt, wird aus dem Fernsehkrimi auch ein Hörgenuss. Die 90-minutige Hörfilmfassung steht begleitend zur Erstausstrahlung im Fernsehen ab dem 25. Mai 2025 in der ARD Audiothek zum Streaming und Download bereit.


GESPRÄCHE


Elke Schuch (Buch)
Elke Schuch (Buch)

Catharina Junk (Buch)
Catharina Junk (Buch)
„Beim Schreiben hat uns das Gefühl beeinflusst, dass eine beunruhigende Verrohung um sich greift“
Gespräch mit Elke Schuch und Catharina Junk (Buch)
„Böse geboren“ fragt nach den Ursachen und Folgen von Gewalt. Was stand dabei für Sie im Zentrum?
Elke Schuch: Unser Ausgangspunkt war der zentrale Mutter-Sohn-Konflikt in dieser Geschichte, die dysfunktionale Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Sohn. Das war unser Kern, den Rest haben wir davon ausgehend entwickelt.
Warum ist die Beziehung zwischen Eva Greuner und ihrem Sohn Milan so schwierig?
E.S.: Milans Vater war ein Vergewaltiger und Serienmörder. Die Mutter hat sich dennoch dafür entschieden, ihr Kind zur Welt zu bringen. Sie liebt ihren Sohn trotz der Vorgeschichte mit seinem Vater, problematisch ist jedoch, dass sie ihre traumatische Gewalterfahrung nicht verarbeitet hat. Die Vergangenheit ist für sie eine offene Wunde, die das Kind immer wieder aufreißt, was dazu führt, dass sie vieles von dem, was sie mit dem Vater erlebt hat, in Milan hineinprojiziert. Trotz ihrer Liebe verspürt sie dem Sohn gegenüber Misstrauen. Diese Ambivalenz hat uns interessiert, denn das ist für eine Mutter eigentlich ein Tabu.
Catharina Junk: Die Tatsache, dass sie sich für das Kind entschieden hat, führt bei ihr auch dazu, dass sie sich für alles, was es tut, verantwortlich fühlt. Sie fragt sich, ist mein Kind böse? Hätte ich es also nicht kriegen dürfen? Und diese Zweifel belasten das ganze Leben dieses Jungen. Er wächst mit dem skeptischen, ängstlichen Blick der Mutter auf. Die interessante Fragestellung war für uns von Anfang an, inwieweit das nicht verarbeitete Trauma der Mutter nicht am Ende vielleicht zu genau den Konsequenzen führt, die sie nicht wollte. Welche Chance haben Mutter und Sohn und welche haben sie verpasst?
Milan ist verschlossen, er hat keine Freunde, verbringt viel Zeit im Wald und vergräbt Dinge, die er dort findet. Sein Verhalten ist durchaus ungewöhnlich.
C.J.: Milan hatte im Grunde nie eine Chance, einfach ein unbeschwertes Kind zu sein, weil immer von außen irgendwelche Dinge in ihn hineingelesen wurden. Wenn er einem anderen Kind im Kindergarten in den Oberarm gebissen hat, wurde das nicht als altersgemäßes Verhalten betrachtet, sondern als ein Ausdruck dafür, dass er seinem Vater ähnlich ist. Dabei gehört es einfach dazu, dass Kleinkinder mal kratzen, beißen, spucken und sich kloppen. Sie müssen ja erst noch lernen, was sozial anerkannt ist und was nicht. Ich habe mir immer vorgestellt, dass in solchen Situationen bei Milan sofort ein Elternabend einberufen wurde. So kann man sich nicht frei entfalten und gerät automatisch in die Rolle des Außenseiters.
E.S.: Die Entscheidung, gut, dann lieber gar keine Freunde, ist eine logische Konsequenz daraus. Je älter so ein Junge wird, desto mehr fragt er sich ja wahrscheinlich auch selbst, was mit ihm los ist. Und die sicherste Variante ist dann, einfach gar nicht mehr richtig zu kommunizieren. Die Tragödie dieser Figur ist, dass sie ihre einzige Rettung darin sieht, sich komplett vor allem zu verschließen. Er kommuniziert nur noch mit anderen Lebewesen im Wald. Und natürlich hat Milan auch eine Aggression in sich. So etwas entsteht, wenn man die ganze Zeit anders gelesen wird, als man sein möchte und ist. Irgendwann wird man dann auch ein bisschen zu dem, was die anderen immer in einem zu sehen glauben.
Eva Greuner ist mit ihrem Sohn an den Waldrand gezogen. Hat sich die Lage dadurch entspannt?
C. J.: Dieser Rückzug an den Waldrand war eine Flucht vor der Welt, die über Milans Vater Bescheid weiß. Die Mutter hat sich aus Liebe zu dem Kind entschieden, ein Leben im Versteck zu führen, tragischerweise jedoch, ohne ihr Trauma jemals aufgearbeitet zu haben. Also sind die beiden wegen dieser Vorgeschichte dort im Grunde aneinandergekettet und miteinander gefangen.
E.S.: Diese Isolation vermittelt eine fast klaustrophobische Atmosphäre. Die äußere Situation zeigt ja auch, wie es Milan damit geht; sie vermittelt eine unglaubliche Einsamkeit; trotz der räumlichen Enge sind die beiden sehr weit voneinander entfernt.
Die schwierige Beziehung von Eva und Milan Greuner wird von der zwischen Melly Böwe und ihrer Tochter Rose gespiegelt. Inwiefern unterscheidet sich Roses Situation von Milans?
C.J.: Während Milan über seinen Vater Bescheid weiß, ist Rose in Unkenntnis über ihren Vater und über die Umstände ihrer Zeugung. An einem überraschenden Punkt dieser Geschichte erfahren wir etwas über Melly: Auch Rose ist durch eine Vergewaltigung entstanden, aber Melly konnte diesen Umstand geheim- und die Geschichte so von Rose fernhalten. Sie ist fest davon überzeugt, dass das Böse nicht vererbt wird, und diese Überzeugung hat es ihr ermöglicht, ihr Kind zu lieben und zu schützen und es nicht anzuzweifeln.
E.S.: Melly Böwe ist ja insgesamt eine Figur, von der man sofort glaubt: Wer, wenn nicht sie, hat die Fähigkeit zu lieben? Sie ist einfach gesegnet mit dieser Ressource, mit einer positiven Kraft, die sie trotz der finsteren Dinge, die ihr ja der immer wieder begegnen, nutzen kann.
Sie zeigen, wie eine gegen Milan gerichtete Dynamik in Gang kommt, als die Leiche einer jungen Frau im Wald gefunden wird. Zugleich streuen sie Details ein, die ihn verdächtig erscheinen lassen. Wofür steht z. B. das Einmachglas mit den Projektilen?
E.S.: Für mich stand diese Sammlung immer dafür, dass er die gewilderten Tiere, die er im Wald findet, von den Kugeln befreien will. Er liebt Tiere und will sie so beerdigen, wie sie waren, bevor der Mensch zugeschlagen hat. Die Projektile sind für ihn der Beweis für das Schlechte in den Menschen. Er will sie rausholen, bevor er die Tiere dem Wald zurückgibt.
C.J.: Das Schöne ist, dass das auf zwei Weisen gelesen werden kann. Man kann es so sehen, wie Elke es gerade skizziert hat, aber die geübten Krimi-Zuschauer*innen interpretieren es erst einmal als Trophäensammlung eines Serienkillers. Die Dinge können halt beides sein; da spielen wir mit Vorurteilen. Auch die Ermittlerinnen denken sofort: Okay, das ist die Souvenirsammlung eines Killers.
Es braucht nicht viel, bis alle Milan für den Täter halten. Die Szene, in der Eva Greuner ihren eigenen Sohn bezichtigt, wirkt schockierend. Worauf kam es Ihnen hier an?
E.S.: In der unerhörten Beschuldigung ihres eigenen Sohnes zeigt sich das ganze Drama dieser Frau. Hier kippt das Ambivalente, von dem wir vorhin gesprochen haben, in eine Richtung. Im Grunde ist diese Beschuldigung so etwas wie ein Befreiungsschlag für Eva Greuner. Es wird deutlich, dass sie ihre Entscheidung, dieses Kind zu bekommen, auch bereut hat, dass sie die Verantwortung für ihn als beständige Belastung empfunden hat. Und jetzt hat sie die Möglichkeit, einen Cut zu machen und die Welt und vor allen Dingen sich selbst von diesem „Tätersohn“ zu befreien. Diese Wendung, und auch dass Milan das Gespräch zwischen seiner Mutter und den Ermittlerinnen mit anhört, macht die Szene sehr schmerzhaft.
Paul Cobalt, der Sohn der Försterin, ist der Einzige, der gelegentlich Milans Nähe sucht. Er ist freundlich und bei allen beliebt – eine Art Vorzeigesohn. Was hat ihn geprägt?
E.S.: Für mich war das das andere Extrem: Wir sehen, dass längst nicht alles in Ordnung sein muss, wenn jemand in einer auf den ersten Blick heilen Familie groß wird. Pauls Vater betrügt seine Frau Julia. Und Julia Cobalt ist zwar eifersüchtig, bewegt sich jedoch nicht, dafür offenbart sie hier und da fast niederträchtige Seiten. Nach außen hin spielen alle in der Familie trotzdem heile Welt, und auch das kann einen negativen Effekt haben. Paul ist der Supersohn, alle sind sehr angetan von ihm. Aber vermutlich haben diese Zuschreibungen und Erwartungen an ihn dazu geführt, dass er sich seiner dunklen Seite zugewandt hat.
C.J.: Ich glaube, das ist bei ihm so eine Art innere Rebellion, dass er dem Perversen, das in dieser Familie auch spürbar ist, nachgeht. Er sucht Grenzen und will Grenzen überschreiten. Nach außen hin ist er der Angepasste, und man sieht, wie leicht es für ihn ist, unter dem Radar zu bleiben. Weil sich alle Blicke auf den Außenseiter richten, dem das Etikett anhaftet, böse zu sein.
Die Cobalts eint eine Leidenschaft für die Jagd, die den Tierschützern ein Dorn im Auge ist. Aber schnell wird klar, dass auch die jungen Aktivist*innen keine Unschuldslämmer sind.
C.J.: Ja, das stimmt. Wir sehen drei Personengruppen, und unschuldig ist da im Grunde niemand. Ich glaube, dass die Verzweiflung, die man empfindet, wenn man das Gefühl hat, die Welt ist zu schlecht und zu ungerecht, auch zu einer Verrohung führen kann. Das sieht man aktuell einfach immer wieder. Und da steht dann das eine neben dem anderen. Für die Verzweiflung haben wir, glaube ich, alle vollstes Verständnis. Aber die Frage ist, wie weit geht man in dieser Verzweiflung und wo sind da die persönlichen und auch moralischen und ideologischen Grenzen. Beim Schreiben hat uns das Gefühl beeinflusst, dass sich diese Grenzen immer weiter verschieben und eine beunruhigende Verrohung um sich greift.
E.S.: Anders formuliert nimmt die Fähigkeit ab, negative Gefühle wie meinetwegen so eine Verzweiflung anders zu bearbeiten, als in Gewalt oder Extreme zu verfallen. Darum sticht für uns eine Figur positiv aus diesem Film heraus, deren Kampf wir ja auch miterleben: Melly Böwe. An Melly sieht man, dass man auch konstruktiv versuchen kann, sich mit Ambivalenzen und Widersprüchen auseinanderzusetzen. Melly versucht, an sich zu arbeiten, und Lina Beckmann spielt das wieder mal wahnsinnig toll. Ein extremes oder radikales Verhalten hat ja sehr viel mit Hass und einem verlorengegangenen Gefühl für Zwischentöne zu tun. Und Melly versucht, genau das hinzubekommen in ihrer eigenen Geschichte und der Beziehung zu ihrer Tochter.
Alexander Dierbach (Regie)
Alexander Dierbach (Regie)
„Die Geschichte setzt das Brennglas auf die Gefährlichkeit von Vorurteilen“
Gespräch mit Alexander Dierbach (Regie)
Der Film beginnt mit einem kaltblütigen Mord und einer Menschenjagd in einem Waldstück bei Rostock. Ein harter Einstieg in eine Welt voll von Spannungen, Gewalt und Geheimnissen. Was hat Sie an dieser Geschichte angesprochen?
Diese Vielschichtigkeit von Gewalt und Geheimnis hat mich besonders gereizt, weil sie die Möglichkeit bietet, in die psychologischen Abgründe der Charaktere einzutauchen. Der Einstieg in die Geschichte setzt den Ton für den gesamten Film – es geht nicht nur um den äußeren Konflikt, sondern um die innere Zerrissenheit der Figuren. Die Brutalität des Mordes und der Jagd wirkt ähnlich wie ein Stein, der auf eine Wasseroberfläche trifft. Wir können über den Film erleben, wie die dadurch ausgelösten Wellen Familiengeheimnisse an die Oberfläche bringen.
Besonders hat mich der Aspekt der Spiegelungen in den Familiensystemen der Charaktere interessiert. Sicherlich steht jeder Familienkosmos für sich selbst, trotzdem entdecken wir immer wieder Parallelen zwischen den Ermittelnden und den Episodencharakteren. Welches Geheimnis verbirgt sich hinter der Frage nach dem Vater von Rose Böwe? Kann ein „Böse-Gen“ mitgegeben oder freigesetzt werden? Was macht es mit Kindern, wenn sie aufgrund der Taten eines Elternteils ausgegrenzt werden und wie können sie sich daraus befreien? Im Zentrum haben mich die Konflikte der Eltern-Kind-Beziehungen unserer Charaktere interessiert, die alle unterschiedliche Farben haben – im Ergebnis wirken sie sich auf die Gegenwart jedoch alle sehr bedeutend aus und entladen sich letztlich in einem weiteren Mord.
Wo haben Sie spezielle Akzente gesetzt und wie würden Sie Ihr visuelles Konzept für diesen Krimi beschreiben?
Mein Ziel war es, eine visuelle Sprache zu entwickeln, die die Atmosphäre der Geschichte verstärkt und die psychologischen Nuancen der Figuren unterstreicht. Besonders im Hinblick auf Milan, der als Einzelgänger und innerlich zerrissener Mensch dargestellt wird, habe ich Akzente gesetzt, die seine Isolation, den inneren Konflikt und seine Leere visuell spürbar machen. Das Abtauchen in seine Welt, begleitet von der Musik, ist gleich eingangs gesetzt und zieht sich durch die Handlung. Es war mir wichtig, mit in Milans Welt einzutauchen, sie durch seine Perspektive zu erleben. In Szenen, in denen Milan mit anderen Charakteren interagiert, habe ich bewusst eine Distanz geschaffen – sowohl im Bildausschnitt als auch durch die Anordnung der Figuren.
Grundsätzlich haben wir nahezu keine statischen Kameraeinstellungen gewählt. Ebenso haben wir auf untersichtige oder aufsichtige Kameraperspektiven bewusst verzichtet, um den Charakteren stetig auf einer Art „Augenhöhe“ zu begegnen. Dabei sollte sich das Bild stets als beobachtende Perspektive anfühlen – daher haben wir uns für die Handkameraführung entschieden. Mein visuelles Konzept für diesen Film ist eine Mischung aus psychologischer Tiefe und visueller Reduktion: Es geht weniger um schnelle rhythmische Schnittfolgen, sondern vielmehr um das Einfangen von Momenten der Reflexion und der inneren Spannung. Die Charaktere stehen im Vordergrund, die Kamera sollte ein Fenster in ihre Welten aufstoßen und somit eine Neugier auf die dahinter verborgenen Geheimnisse provozieren.
Während Rose und Milan unter abwesenden Vätern leiden, wächst Paul Cobalt in einer vordergründig intakten Familie auf, findet in ihr aber weder Halt noch Vorbild. Was läuft falsch in seinem Umfeld?
Bei Paul Cobalt war es mir wichtig, eine Figur zu begleiten, die in einer vermeintlich stabilen, normativen Familie aufwächst, jedoch von einer inneren Leere geprägt ist. Diese Leere entsteht nicht aufgrund von äußerer Gewalt oder Traumata, sondern durch ein völliges Fehlen emotionaler Bindungen und authentischer Kommunikation. Hier haben die Autorinnen eine hervorragende Spiegelung zwischen Paul und Milan kreiert. Während Milan in einem deutlich sichtbar zerrütteten Familiensystem aufgewachsen ist, stellt sich die Welt von Paul anders dar und trotzdem ist sie im Kern ähnlich von emotionaler Isolation geprägt.
Das zentrale Problem in der Familie Cobalt ist, dass Paul von den Menschen um ihn herum keine emotionale Sicherheit erfährt. Trotz der äußeren Anzeichen einer funktionierenden Familie gibt es keine tiefere Verbindung zwischen den Familienmitgliedern, jedes einzelne Mitglied ist in seinem eigenen Kampf und in seinen eigenen Verdrängungen gefangen. Der Vater wirkt nach außen hin stark, aber er ist gefühlsmäßig abwesend. Seine Frau Julia ist abhängig von den Haltungen ihres Ehepartners und für ihren Sohn emotional unnahbar. Paul fühlt sich nicht verstanden und von seiner Familie entfremdet. In ihm wächst ein Gefühl der Verachtung, nicht nur gegenüber seiner Familie, sondern auch gegenüber der Welt, die er als oberflächlich und heuchlerisch empfindet. Er hat das Gefühl, dass niemand ihn wirklich sieht und steckt in einem emotionalen Vakuum, das ihn immer weiter von den Menschen um ihn herum entfernt.
„Böse geboren“ zu sein, ist das Stigma, mit dem der Hauptverdächtige in diesem Fall leben muss. Ihr Film führt eindrucksvoll vor Augen, wie schwer man sich von solchen Etiketten befreien kann. Wie viel Gesellschaftskritik steckt für Sie in dieser bedrückenden Geschichte?
Die Geschichte setzt das Brennglas auf die Gefährlichkeit von Vorurteilen und schablonenhaften Vorverurteilungen. Es gibt in unserer Gesellschaft die Tendenz, Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Vergangenheit oder bestimmter äußerer Merkmale zu stigmatisieren und in eine Rolle zu drängen, aus der sie schwer entkommen können. Diese Etiketten werden oft ohne Rücksicht auf den individuellen Charakter oder die komplexen Hintergründe einer Person vergeben. Was mich an der Geschichte besonders berührt, ist die Art und Weise, wie diese Etiketten nicht nur das Leben des Verdächtigen Milan, sondern auch das Leben aller um ihn herum beeinflussen – selbst seine eigene Mutter. Wir sehen hier, dass der Mechanismus der kollektiven Wahrnehmung und der schnellen Urteile nicht nur gefährlich ist, er schränkt auch die Möglichkeit der Veränderung und der menschlichen Entfaltung massiv ein.

ROLLENPROFILE & GESPRÄCHE

KATRIN KÖNIG & MELLY BÖWE
Zuletzt hatte Katrin König schmerzhafte Begegnungen mit ihrem lange verschollenen Vater. Der neue Fall öffnet ihr die Augen für eine ganz andere Art von problematischen Vätern. Als Mellys Tochter Rose eines Abends vor Katrin Königs Tür steht und von ihr Dinge wissen will, die ihre Mutter ihr offenbar vorenthält, ist die Profilerin zunächst irritiert und stellt die Kollegin zur Rede. Katrin König findet, Rose habe ein Recht darauf, mehr über ihren Vater zu erfahren. Dann rückt im Mordfall Sarah Volkmann jedoch ein junger Mann in den Fokus der Ermittlungen, der – als Sohn eines Vergewaltigers – nicht einmal den Rückhalt der eigenen Mutter genießt. Sein Schicksal und ein Geständnis von Melly Böwe sorgen dafür, dass die Wahrnehmung der Profilerin sich gründlich verschiebt.
Als ihre Tochter Rose unangemeldet nach Rostock kommt und endlich mehr über ihren Vater wissen will, gerät Melly Böwe in Nöte. Sie trägt ein dunkles Geheimnis mit sich herum, in dem Roses Vater die zentrale Rolle spielt, und Rose ist die Letzte, die davon erfahren soll. Doch die Ermittlungen lassen ihr ohnehin wenig Zeit für Aussprachen mit der Tochter und das Schicksal des jungen Außenseiters Milan Greuner bestätigt Melly in dem Wunsch, Rose vor dem Wissen über ihre Zeugung schützen. Um Milan zu helfen, offenbart sie ihm, Katrin König und Röder gegenüber schließlich aber doch noch ihr lange gehütetes Geheimnis und beweist damit einmal mehr Charakterstärke und Klugheit des Herzens.

„Es geht um die Folgen von Gewalterfahrungen“
Gespräch mit Anneke Kim Sarnau (Katrin König) und Lina Beckmann (Melly Böwe)
Der „Polizeiruf 110: „Böse geboren“ ist der fünfte gemeinsame Fall von Katrin König und Melly Böwe. Was erzählt der Film für Sie?
Lina Beckmann: Für mich erzählt er davon, wie schwer es ist, die Kette der Gewalt zu durchbrechen, wenn es einmal so etwas wie Missbrauch oder eine Gewalterfahrung gegeben hat. Wie erziehen Menschen, die geschlagen oder missbraucht wurden, ihre Kinder? Oft werden diese Erfahrungen weitergegeben, wodurch sich so etwas dann immer wieder wiederholt. Wir sehen eine Frau, Eva Greuner, die es nicht schafft, diesen Kreislauf zu durchbrechen, und Melly, die versucht, einen anderen Weg zu finden. Ich finde das ein sehr spannendes Thema.
Anneke Kim Sarnau: Ging mir genauso. Die Geschichte zeigt, dass es nur ein bisschen andere Grundvoraussetzungen braucht, damit die Leben zweier Menschen komplett anders verlaufen. Und mir gefiel, dass das alles erst einmal unter einer ganz anderen Prämisse beginnt. Zuerst denkt man, dass es um Tierschützer und Jäger geht, aber dann wird der Fokus auf etwas anderes gelenkt: auf Familie, auf Mütter und Kinder und auf problematische Väter, ob sie nun anwesend sind oder nicht. Es geht um die Folgen von Gewalterfahrungen, die mal tragisch enden können und mal weniger dramatisch, je nachdem, wie die Betroffenen damit umgehen (können). Manchmal benötigt es ja nur wenige Stellschrauben oder Begegnungen und die Lebensrichtungen ändern sich.
Mellys Tochter Rose ist ohne Vater aufgewachsen. Auch hier ist, wie wir erfahren, eine Gewalterfahrung der Grund. Wie hat sie es geschafft, trotzdem ein positives Verhältnis zu ihrer Tochter aufzubauen?
L.B.: Melly ist, als sie in jungen Jahren ungewollt schwanger wurde und das Gefühl hatte, dass ihre Familie sie nicht unterstützt, aus Rostock weggegangen, zu einer Tante ins Ruhrgebiet. Ich habe mir vorgestellt, dass sie sich vor der Geburt irgendwie innerlich darauf vorbereitet hat, dass in dem Moment, wo das Kind in ihrem Arm liegt, viele, auch sehr negative, Gefühle hochkommen können. Sie wusste, dass es sein kann, dass man denkt: Oh Gott, wer ist dieser Mensch jetzt? Die Hälfte von ihm stammt von jemandem, den ich gar nicht richtig kenne und nicht mag oder hasse, weil er mir Gewalt angetan hat. Aber als sie das Baby dann gesehen hat, hat sie entschieden: Das ist mein Kind. Und ich liebe dieses Kind. Und ich kann es nur in dieser Liebe groß werden lassen. Melly hat diese Stärke in ihrem Herzen und in ihrem Wesen. Darum hat sie es geschafft, nur sich und dieses Mädchen zu sehen, das sie über alles liebt, und den Rest auszuklammern.
Nun will Rose mehr über ihren Vater wissen und stürzt Melly in ein Dilemma. Welche Strategie hat sie im Umgang mit ihren schlechten Erlebnissen entwickelt?
L. B.: Ich glaube, dass sie das Erlebte wie in so eine Kammer gesperrt und die Tür ziemlich fest zugemacht hat, damit sie ihr Kind so stark und frei erziehen kann. Sie hat Rose erzählt, dass die Nacht, in der sie gezeugt wurde, ein One-Night-Stand war und das dann für sich als ihre und Roses Wahrheit erklärt. Ihr war klar, dass irgendwann der Moment kommt, wo Rose mehr wissen will, aber sie hat das ganze Thema vor sich hergeschoben. Sie hat diese Tür, dass das in Wirklichkeit eine Vergewaltigung war, zugemacht für sich. Und sie weiß, dass sie diese Tür jetzt öffnen muss. Aber das fällt ihr unglaublich schwer.
Kurz nachdem die Ermittlungen zu dem Mord an einer Tierschutzaktivistin begonnen haben, bekommt Katrin König Besuch von Rose. Weil Melly ihr nichts erzählt, möchte sie von ihr mehr über die Familie Bukow erfahren. Eine heikle Situation für die Profilerin?
A.K.S.: Auf jeden Fall. Ich glaube, Roses Besuch triggert sie auf eine Art. Katrin König ist ohnehin in einer Phase, in der sie auf fast alles mit Ablehnung und Härte reagiert, und besonders allergisch reagiert sie auf das Thema Familie. Noch dazu, wo es um die Familie Bukow geht. Ich glaube, sie wehrt sich über Gebühr gegen die arme Rose, weil dieses Gespräch sie sofort wieder daran erinnert, dass ihr das Herz gebrochen wurde und sie sich zu schützen versucht. Im Moment kann sie sich einfach nicht anders schützen als mit dieser Schroffheit.
Sie kritisiert Melly Böwe heftig dafür, dass sie ihrer Tochter nichts über den Vater erzählt. Die Kollegin reagiert abweisend und verletzt. Warum bleibt Katrin König so hartnäckig?
A.K.S.: Sie benimmt sich da sehr unsensibel, was aber daran liegt, dass sie die Situation völlig falsch deutet. Aus ihrer eigenen Geschichte heraus denkt sie, dass da ein Kind zu wenig von seinen Eltern kriegt, denn das entspricht ihrer eigenen Gefühlslage nach der letzten Begegnung mit ihrem Vater. Katrin König kennt nicht den eigentlichen Grund für Mellys Verhalten.
Melly Böwe ist mit einem sehr persönlichen Problem konfrontiert, muss sich aber gleichzeitig in ihrem beruflichen Umfeld bewegen. Wie geht sie damit um?
L. B.: Melly ist innerlich total im Stress, weil sie keine Zeit hat, sich darum zu kümmern, was gerade mit ihrer Tochter, dem wichtigsten Menschen in ihrem Leben, los ist. Sie muss sich zusammenreißen, um weiter ermitteln und neutral auf den Fall gucken zu können und gleichzeitig gegenüber ihrer Tochter Ruhe zu bewahren, um sie aufzufangen. Ich habe als Schauspielerin zum ersten Mal gespürt, wie wenig Melly eigentlich in ihrem Leben hat, wie furchtbar einsam die Figur und wie traurig ihre Geschichte ist. Ihre Tochter ist das, woraus sie immer Kraft geschöpft hat, aber jetzt tut sich da dieser Konflikt auf und das Ganze fängt an zu wackeln. Darum ist sie furchtbar angespannt und Katrin König ist mit ihrer inquisitorischen Art da überhaupt keine Hilfe.
Die Ermittlungen im Fall Sarah Volkmann führen zunächst zur Familie Cobalt, die wenig kooperativ wirkt. Katrin König reagiert gereizt. Fühlt sie sich provoziert?
A.K.S.: Ihr Gefühl sagt, dass die Situation bei den Cobalts zu kalt und zu schwer ist, da fehlt Wärme. Die Familienmitglieder tun so, als würden sie als Familie zusammenhalten, aber Katrin König spürt untergründige Spannungen. Diese Leute sind ihr zu ernst und zu unlocker. Und auch nicht ganz im Heute angekommen. Katrin König hat den Eindruck, dass bei den Cobalts die Zeit irgendwie stehen geblieben ist, was sie als bedrückend empfindet.
Schließlich gerät ein junger Außenseiter in Verdacht. Bei der Befragung seiner Mutter begegnen die Ermittlerinnen einer Frau, die ihren Sohn selbst für böse hält. Wie erleben sie das?
L. B.: Melly Böwe spürt gerade wieder, wie viel Kraft es sie gekostet hat, ihr eigenes Vergewaltigungsthema wegzusperren. Und vor einer Frau zu stehen, die Ähnliches erlebt hat, es aber nie hinter sich lassen konnte, ist schmerzhaft für sie. Eva Greuner fühlt sich durch ihren Sohn ständig an die Ereignisse aus der Vergangenheit erinnert. Darum betrachtet sie Milan nicht mit einem liebenden Blick, sondern glaubt Hinweise darauf gefunden zu haben, dass er wie sein Vater ist, brutal und gewalttätig. Statt sich vor ihn zu stellen, glaubt sie, dass er zum Schlimmsten imstande ist. Das geht Melly sehr nahe.
A.K.S.: Zugleich sieht man, dass diese Mutter eine total starke Frau ist. Trotz ihrer Zweifel hat sie einfach immer weitergemacht und alles gedeckelt. Sie empfindet durchaus Liebe für ihr Kind, aber darüber lag immer der Schatten des Zweifels, der ihr den Blick darauf verstellt, wer ihr Sohn wirklich ist. Sie deutet einfach falsch, was er tut, und merkt erst ganz am Schluss, dass sie sich geirrt hat. Katrin König erkennt diese tragische Dynamik natürlich auch erst allmählich, denn wie alle anderen denkt sie zunächst, dass Milan tatsächlich etwas mit dem Mord zu tun haben könnte. Aber ihr wird schnell klar, dass Eva Greuner dringend psychologische Hilfe braucht.
Milan wird im Präsidium verhört. Als deutlich wird, welches Martyrium er durchlebt hat, offenbart Melly ihr lange gehegtes Geheimnis. Was ist ihr Motiv?
L. B.: Ich glaube, sie ist wirklich davon berührt, dass dieser Junge selbst denkt, er sei böse, weil er durch eine Vergewaltigung gezeugt wurde und weil ihm das von seiner Mutter und seiner Umwelt immer wieder gespiegelt wurde. Das löst bei Melly eine Mischung aus Wut und Verzweiflung aus, und sie hat das dringende Bedürfnis, ihm etwas mitzugeben: Nämlich, dass diese Herkunft nichts damit zu tun hat, wie er ist. Sie erzählt von ihren eigenen Erlebnissen, weil sie Milan vor den düsteren Gedanken schützen möchte, die er in sich trägt. Dass dieser verstörte junge Mann glaubt, dass er ein Monster ist, weil sein Vater eines war, erschüttert sie. Das möchte sie nicht hören und sie möchte nicht, dass jemand so etwas denkt. Natürlich auch vor dem Hintergrund ihrer eigenen Geschichte mit Rose.
Katrin König und Henning Röder sind sprachlos über Mellys unerwartete Eröffnung. Aber Melly lässt die Kollegen mit ihrer Betroffenheit allein.
AKS: In dem Moment bricht Katrin Königs ganzes Bild von dieser Familie, von Melly selbst und von ihr als alleinerziehender Mutter zusammen. Und ich denke, sie steht vor einer großen Lernaufgabe: Sie muss nochmal auf einer anderen Ebene begreifen, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat. Sie hat sich so etwas Schroffes angewöhnt, sich auf eine Art ein Bukowsches Verhalten übergezogen, aber jetzt merkt sie, dass das nicht mehr funktioniert. Auch nicht im Miteinander mit Melly Böwe. Sie hat sich als Opfer betrachtet, aber das geht jetzt nicht mehr, denn sie sieht, dass sie es mit jemandem zu tun hat, der mindestens genauso, wenn nicht noch viel mehr verletzt ist.
L.B.: Als Schauspielerin fand ich den Moment spannend zu erleben und zu spielen, dass Melly signalisiert: Ich helfe euch jetzt nicht. Es ist nicht meine Aufgabe, euch jetzt zu helfen, mit der Situation umzugehen! Melly ist sehr stark und es macht mir unglaublich viel Spaß, diese Kraft mit reinnehmen zu dürfen in die Figur.

EVA GREUNER
Eva Greuner ist eine starke und zupackende Frau. Sie betreibt quasi im Alleingang eine kleine Fischräucherei am Stadtrand von Rostock und sorgt dabei nicht nur für sich, sondern auch für ihren Sohn Milan. Mutter und Sohn sind in der isolierten Wohnlage stark aufeinander bezogen, doch sie führen kein harmonisches Leben; unter der Oberfläche brodelt es. Milan ist das Kind von Eva mit einem brutalen Vergewaltiger, und immer wieder zweifelt Eva, ob es gut war, Milan überhaupt zur Welt zu bringen. Er erinnert sie durch seine bloße Existenz immer wieder an die Tat, und ihre große Sorge, er könnte nach seinem Vater geraten, wirkt zerstörerisch auf ihr und auf sein Leben. Als in einem Waldstück nahe ihrem Haus eine Frauenleiche gefunden wird, scheinen sich ihre schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen.

„Das Grauen ihres unverarbeiteten Traumas macht es Eva unmöglich, ihren Sohn vorbehaltlos zu lieben“
Gespräch mit Jördis Triebel (Eva Greuner)
Eva Greuner zieht einen Sohn groß, den sie vor vielen Jahren nach einer Vergewaltigung zur Welt gebracht hat. Die Umstände seiner Zeugung überschatten ihr Verhältnis zu ihm. Wie würden Sie diese ungewöhnliche Mutter-Sohn-Beziehung beschreiben?
Das Grauen ihres unverarbeiteten Traumas macht es Eva schwer bis unmöglich, ihren Sohn vorbehaltlos zu lieben. Dazu kommt die diffuse unausgesprochene Angst, dass die Gewalt und der Tötungstrieb des Vaters an das Kind weitergegeben wurden. Milan ist gefangen in diesem Käfig widersprüchlicher Gefühle und weiß um seine Chancenlosigkeit.
Mutter und Sohn sind eng aufeinander bezogen, kommunizieren aber wenig. Wie wirkt sich Eva Greuners traumatische Gewalterfahrung auf ihr aktuelles Leben aus?
Eva Greuner hat sich mit der Fischerhütte im Wald einen Ort gesucht, an dem sie eigentlich nicht am Leben teilnehmen muss. Sie erhofft sich Sicherheit in dieser Abgeschiedenheit, ohne genau zu wissen, vor was und wem sie sich eigentlich schützen muss.
Als in der Nähe eine Frauenleiche gefunden wird, sieht Eva Greuner sich in ihren schlimmsten Ängsten bestätigt. Den Ermittlerinnen berichtet sie von ihren ambivalenten Gefühlen für ihren Sohn und beschuldigt ihn. Wieso?
Eva kann endlich ihre Befürchtungen formulieren – das ist bestimmt einerseits eine große Entlastung, weil sie, sollte Milan verhaftet werden, nicht länger Angst um und auch vor ihm haben muss. Andererseits bedeutet das den Verlust ihres Kindes, das sie – trotz allem – liebt.

MILAN GREUNER
Milan Greuner ist ein wortkarger junger Mann. Er lebt mit seiner Mutter Eva außerhalb der Stadt und streunt tagsüber durch den Wald, anstatt zu arbeiten oder einer Ausbildung nachzugehen. Er sucht die Nähe zu den Tieren und verfolgt nebenbei die Umtriebe von Umweltschützern und Jägern in dem Waldstück nahe seinem Zuhause. Das Verhältnis zur Mutter ist angespannt. Er spürt ihre ständige Sorge um ihn, aber er merkt auch, dass sie ihm nicht traut. Milan ist ihr einziges Kind, er wurde bei einer Vergewaltigung gezeugt und lebt seit seiner Geburt mit dem Stigma, Sohn eines Gewaltverbrechers zu sein. Der ständige Argwohn sowohl der Mutter als auch seiner Umwelt hat ihn zum Außenseiter gemacht und als solcher zieht er immer nur weiteren Argwohn auf sich. Ein Teufelskreis, aus dem Milan schließlich nur noch einen Ausweg sieht.

„Milan empfindet es als entlastend, die ihm zugeschriebene Rolle schließlich einfach anzunehmen“
Gespräch mit Eloi Christ (Milan Greuner)
Als Sohn eines Gewaltverbrechers führt Milan Greuner das Leben eines Außenseiters. Wie findet man in so eine Rolle hinein?
Die Ambivalenz dieser Rolle und das Setting haben mich gleich sehr angesprochen. Schon allein die Grundprämisse des Films. Er stellt die Frage, woher das Böse kommt, ob es intrinsisch ist oder von den Umständen abhängt. Und die Figur des Milan stellt diesen Konflikt für mich ganz zentral dar. Das fand ich sehr spannend und diese Rolle war für mich eine tolle Herausforderung.
Wie geht Milan selbst mit dem Wissen um seinen Vater um?
Milan ist aus einer Vergewaltigung hervorgegangen, und ebenso wie die Frage, ob der Hang zur Gewalt familiär bedingt ist, von außen an ihn herangetragen wird, fragt er sich natürlich auch selbst, ob ihm das vielleicht im Blut liegt. Er macht sich wirklich einen großen Kopf darum und sucht deshalb Abstand von allem, von seiner Mutter und von seinem Umfeld.
Milan hält sich gern im Wald auf. Was zieht ihn dorthin?
Milan ist sehr naturverbunden. Der Wald ist sein Rückzugsort, dort kann er dem sozialen Druck entgehen und bei den Tieren findet er in gewisser Weise Trost. Er hat Mitleid mit den getöteten Tieren, die er im Wald findet, und begräbt sie. Darin findet er eine Aufgabe, die ihm etwas Ruhe und Selbstbewusstsein gibt. Aber natürlich kann er sich nicht komplett loslösen von der Sicht, die seine Mutter und sein Umfeld auf ihn haben. Das macht ihm zu schaffen.
Seine Mutter schwankt ihm gegenüber zwischen Liebe, Sorge und Angst. Welches Verhältnis hat er zu ihr?
Er ist genervt von ihrer Angst. Sie lässt ihn spüren, dass sie ihm nicht vertraut, und teilweise gehen Mutter und Sohn ziemlich brutal miteinander um. Ich denke zum Beispiel an die Szene, wo sie im Hausflur miteinander rangeln. Und sie sperrt ihn in seinem Zimmer ein. Das ist einfach ein sehr kalter Umgang, der nicht unbedingt von Liebe zeugt. Aber natürlich ist Milan auch nicht ganz unschuldig. Die Szene, in der er das Gewehr anlegt und aus der Ferne auf seine Mutter zielt, weist darauf hin, dass es Momente gibt, in denen er sie verachtet. Das fand ich schon ziemlich abgefahren. Aber am Ende sieht man, wie er instinktiv Schutz bei seiner Mutter sucht. Unter all der Ambivalenz liegt eine enge Verbundenheit, die im täglichen Miteinander zu wenig Ausdruck findet.
In dem Waldstück unweit seines Zuhauses kreuzen sich die Wege von Jägern, Wilderern und Tierschützern. Wie viel bekommt Milan von deren Aktivitäten mit?
Ich glaube, dass er da einiges mitbekommt und das auch dazu beiträgt, dass er sich von den Menschen abschottet und den Tieren zuwendet. Das Tolle an dem Film ist, dass man in jeder Figur diese Ambivalenz wiederfinden kann. Das gilt für die Tierschutzaktivisten, die sich einerseits für die Tiere einsetzen, dabei aber dann gleichzeitig Hochsitze absägen und in Kauf nehmen, Leute zu verletzen. Aber auch die Familie Cobalt ist durch Zerrissenheit geprägt. Im Endeffekt ist es so, dass alle diese Rollen nicht klar einzuordnen sind in Gut und Böse.
Der Sohn der Försterin ist der Einzige, der das Gespräch mit Milan sucht. Aber auch er scheint vor allem von dem Umstand fasziniert zu sein, dass Milans Vater ein Mörder war. Wie sieht Milan diesen „Freund“?
Ich glaube, Milan lebt in seiner eigenen Welt. Er realisiert zwar, was um ihn herum passiert, aber er distanziert sich auch davon. Auch auf Paul lässt er sich gar nicht ein. Im Endeffekt erliegt er wie alle anderen der Illusion, dass er der perfekte Mustersohn ist und hat gar kein Interesse daran, mit ihm irgendwie gemeinsame Sache zu machen. Er begegnet ihm genauso wortkarg und ablehnend wie den anderen. Ihm sind einfach andere Dinge wichtig.
Als Katrin König und Melly Böwe im Zuge ihrer Ermittlungen Milans Mutter befragen, belastet sie Milan schwer. Milan hört das Gespräch mit. Was empfindet er dabei?
Er weiß ja von dem Argwohn seiner Mutter und kann sich vorstellen, was in ihr vorgeht, aber es dann wirklich ausgesprochen zu hören, ist dann doch wie der finale Dolchstoß. Er hat jedoch bereits genug emotionale Distanz zur Mutter aufgebaut, um in diesem Moment nicht komplett zu kollabieren. Trotzdem setzt ihm das nochmal zu. Und er trifft in dem Moment den Entschluss, dass er mit der Mutter nicht mehr zusammenleben möchte. Ihm ist alles lieber, als weiterhin in diesem Haushalt zu bleiben, weil offenkundig ist, dass sie in ihm das Gleiche sieht wie in ihrem Vergewaltiger.
Milan gesteht die Tat und wird im Präsidium verhört. Warum wehrt er sich nicht?
Er leidet sehr unter dem Druck, den er von seiner Mutter und seinem sozialen Umfeld bekommt. Und so absurd das auch klingt: Die Vorstellung, ins Gefängnis zu kommen, hat in diesem Moment etwas Befreiendes für ihn. Für ihn ist das, was er vorher erlebt hat, schlimmer. Milan empfindet es als entlastend, die Rolle, die ihm dauernd zugewiesen wird, schließlich einfach anzunehmen. Wenn jeder mit dem Finger auf ihn zeigt und sagt: „Du bist ein Weirdo, du kommst ganz nach deinem Vater, du bist ein Psychopath“, dann empfindet er es in gewisser Weise als tröstlich, die Rolle zu akzeptieren und aus diesem Umfeld wegzukommen. Er sagt sich: Okay, dann bin ich halt der Böse, dann lasst ihr mich vielleicht endlich in Ruhe. Erst durch die einfühlsame Befragung von Melly Böwe ändert sich etwas. Durch sie bekommt er zum ersten Mal das Gefühl, nicht allein zu sein. Dass es doch Leute gibt, die ihm Gehör schenken, gibt ihm die Kraft, von einem Neuanfang zu träumen.

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