Mauerfall:
Neu geboren 1989
Werte und Gleichberechtigung
Das Jahr 1989 steht für Veränderung: Damals 30-Jährige müssen neue Wege finden. Neugeborene starten in ein Leben ohne DDR. Menschen der Jahrgänge 1959 und 1989 verbinden ganz unterschiedliche Dinge mit Mauerfall und Wendezeit.
In dieser Folge des NDR Projekts "Neu geboren 1989" treffen Sophie und Sabine aufeinander, die sich zuvor nicht gekannt haben.
Das Jahr 1989 steht für Veränderung: Damals 30-Jährige müssen neue Wege finden. Neugeborene starten in ein Leben ohne DDR. Menschen der Jahrgänge 1959 und 1989 verbinden ganz unterschiedliche Dinge mit Mauerfall und Wendezeit.
In dieser Folge des NDR Projekts "Neu geboren 1989" treffen Sophie und Sabine aufeinander, die sich zuvor nicht gekannt haben.
Sophie und Sabine haben am selben Tag Geburtstag: Sophie kommt an Sabines 30. Geburtstag, dem Tag des Mauerfalls am 9. November 1989, zur Welt.
Start ins Leben, als alles Kopf steht
Sophie Weber startet in Rostock ins Leben, als für viele Ostdeutsche die Welt Kopf steht. Doch was damals Historisches passiert, ist ihr lange nicht bewusst.
Ihre Eltern erfahren verspätet vom Mauerfall - die Mutter auf der Geburtsstation, der Vater abends in den Nachrichten.
Die Familie meistert den Umbruch, der dann kommt: Die Mutter ist Zahnärztin und macht sich nach dem Ende der DDR selbstständig, der Vater ist Ingenieur.
Mit Ost und West kann Sophie als Kind wenig anfangen, weil das für sie einfach keine Rolle spielt. Sie fühlt sich - wenn überhaupt - einfach norddeutsch.
Sie wächst in einer Familie auf, in der alle berufstätig sind, auch die Frauen. Ein Umstand, der im Westen damals nicht ganz so selbstverständlich ist.
Und dann kommt die Verunsicherung
Sabine Kossow ist leidenschaftliche Erzieherin und arbeitet 1989 in einem Kindergarten in Roggentin bei Rostock. Zwei Dörfer weiter, in Thulendorf, ist sie zu Hause. Völlig unerwartet fällt an ihrem 30. Geburtstag die Mauer. Tags darauf fährt sie nicht in den Westen, sondern zum lange geplanten Klassentreffen nach Franzburg, wo sie studiert hat. Sie erinnert sich an eine große Verunsicherung der Menschen.
Der Job gibt Sabine Halt
Die Erwerbsquote von Frauen liegt in der DDR deutlich höher als in der Bundesrepublik. Sabine bleibt auch nach der Wende in ihrem Kindergarten. Sie hat Glück, denn in Ostdeutschland sind es zunächst vor allem die Frauen, die nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung ihre Arbeit verlieren.
Sabines Mann Hans-Walter arbeitet damals in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG). Anfänglich macht er sich keine Sorgen um seine berufliche Zukunft. "Gegessen wird schließlich immer“, sagt er zu seiner Frau. Als die Veränderungen in der Landwirtschaft immer größer werden, sucht er sich schließlich doch einen neuen Job und wird Fensterbauer. Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall packt ihn manchmal Wehmut, wenn gedroschen wird und dieser Duft im Dorf liegt. Aber, sagt Sabine, er hat das damals so für sich entschieden.
Alte Vorgaben gelten nicht mehr
Auch für Sabine bringt die Wiedervereinigung berufliche Veränderungen: Was machen wir jetzt bloß mit den Kindern im Kindergarten? Was müssen wir anders machen? Diese Fragen beschäftigen sie. Denn alle Vorgaben gelten nicht mehr, neue gibt es noch nicht. Und Sabine hat noch andere Sorgen: Sie muss ihren Abschluss noch einmal neu machen, und das kratzt an ihrem Selbstbewusstsein.
Sophie studiert nach dem Abitur in Greifswald Kommunikationswissenschaften, Anglistik und Amerikanistik. 2014 geht sie nach Dresden und arbeitet als Kampagnenmanagerin in einer Werbeagentur.
Nach allem, was sie weiß und was ihre Familie ihr erzählt hat, ist Sophie froh, dass sie nicht in der DDR groß geworden ist. Damals durfte zum Beispiel ihre Oma nicht zur Beerdigung ihres Vaters in die Bundesrepublik reisen und wurde sogar einmal von der Stasi verhört.
Sabine darf Ende Juni 1989 noch vor dem Mauerfall einmal zum 50. Geburtstag ihrer Cousine in Bad Lauterberg in den Westen fahren. Das Visum im DDR-Reisepass gilt für fünf Tage. Dass sie danach wieder nach Hause zurückkommen wird, steht für sie außer Frage.
Tief verwurzelt in der Heimat
Sabine ist in Thulendorf geboren, dort möchte sie bis an ihr Lebensende bleiben.
Sie wächst in einem Drei-Generationen-Haus auf, mit den Großeltern unter einem Dach. Ein großes Glück, sagt sie. Und ihren Mann findet sie drei Häuser weiter.
Der Zusammenhalt nicht nur in der Familie, sondern auch im Dorf sei immer etwas ganz Besonderes gewesen, erinnert sich Sabine. Mit ihrem Ehemann gründet sie Anfang der 1980er-Jahre eine Familie, bekommt zwei Kinder.
Einen Antrag auf Einsicht in die Stasiunterlagen hat Sabine nie gestellt. Für sie ist es wichtig, sich an die schönen Dinge der Vergangenheit zu erinnern. Je älter sie wird, desto öfter denkt sie an die DDR-Zeit und ihre Jugend zurück.
Sich verkleiden können, Feste feiern, all das ist ihr wichtig bei ihrer Arbeit im Kindergarten. Heute ist Sabine Leiterin ihres alten Kindergartens in Roggentin. Immer wieder sieht sie sich mit besorgten Eltern konfrontiert: Setzen Sie die Kinder auch aufs Töpfchen? Dann antwortet sie: "Ja. Aber ohne Zwang." Was sich im Vergleich zu früher verändert hat, ist ihrer Meinung nach die Verunsicherung vieler Eltern. Die Auswahl sei heute einfach größer: Welches pädagogische Konzept? Welche Brotdose? Diese Vielzahl der Möglichkeiten ist aus ihrer Sicht heute oft von Nachteil. Von Vorteil sei die gute Kinderbetreuung in der DDR gewesen. Noch heute liegt der Osten dabei vorn.
Sabine erzählt, dass die langen Betreuungszeiten für Eltern aus den alten Bundesländern, die zugezogen sind, anfangs gewöhnungsbedürftig gewesen seien.
Was bleibt von der DDR?
Die Wertschätzung von Dingen, gegenseitige Hilfsbereitschaft, reparieren statt wegwerfen - das verbindet Sophie mit der DDR, ganz im Gegensatz zur Überflussgesellschaft heute. Sabine erinnert es an früher, wenn sich Mütter heutzutage wieder zum gemeinschaftlichen Nähen treffen. "Das haben wir damals auch gemacht."
Ihr ist 30 Jahre nach dem Mauerfall wichtig, Kindern und auch Erwachsenen Werte, Strukturen und Regeln zu vermitteln und damit Halt und Orientierung. Gut sei es aber, dass es keine starren Strukturen mehr gibt.