Mauerfall:
Neu geboren 1989

Im Dienst des Volkes

Mauerfall 1989

Das Jahr 1989 steht für Veränderung: Damals 30-Jährige müssen neue Wege finden. Neugeborene starten in ein Leben ohne DDR. Menschen der Jahrgänge 1959 und 1989 verbinden ganz unterschiedliche Dinge mit Mauerfall und Wendezeit.

In dieser Folge des NDR Projekts "Neu geboren 89" treffen Patrick und Holger aufeinander, die sich zuvor nicht gekannt haben.

Das Jahr 1989 steht für Veränderung: Damals 30-Jährige müssen neue Wege finden. Neugeborene starten in ein Leben ohne DDR. Menschen der Jahrgänge 1959 und 1989 verbinden ganz unterschiedliche Dinge mit Mauerfall und Wendezeit.

In dieser Folge des NDR Projekts "Neu geboren 89" treffen Patrick und Holger aufeinander, die sich zuvor nicht gekannt haben.

Was sich für den 1989 geborenen Patrick manchmal so weit weg anhört, ist für den 30 Jahre älteren Holger ein tiefer Einschnitt in sein Leben gewesen.

Patrick wächst mit dem Umbruch auf

Patrick Bull wird kurz nach dem Mauerfall - am 20. November 1989 - geboren. Er wächst in und bei Anklam auf - in Vorpommern, einer Gegend im Umbruch.

Seine ersten Lebensmonate verbringt Patrick noch in der DDR, an seinem ersten Geburtstag lebt er bereits in einem neuen Bundesland - im neu gegründeten Mecklenburg-Vorpommern.

Zu Patricks Kindheitserinnerungen gehört auch das alte West-Auto seiner Mutter: "Das war eine rote alte Klapperkiste." Viele Ostdeutsche fahren noch Trabbi und Wartburg, während er als kleiner Junge mit dem Rad unterwegs ist.

Holger ist 1989 noch gefechtsbereit

Holger Fitzner ist 1989 Offizier in der Nationalen Volksarmee. Er ist damals 30 Jahre alt und Familienvater. Im "Wendeherbst" befindet er sich in Gefechtsbereitschaft. "Wir waren ja eine Armee unter dem Diktat der Partei", sagt er. In den Kasernen gibt es 1989 Unruhen. Holger muss in seiner Kompanie für Ruhe sorgen. Und er fragt sich: "Stehe ich auf der 'richtigen' Seite"?

Mit dem Mauerfall und dem Ruf nach Wiedervereinigung beginnt eine Zeit der Unsicherheit. Schnell ist klar: Die Bundeswehr löst die NVA ab. Für Holger und seine Kameraden scheint es keine Zukunft zu geben. Zwar braucht es für die Abwicklung Personal, das sich mit zigtausend Tonnen Munition und anderen Waffensystemen auskennt - aber es gibt keinen Platz für alle.

Holger gehört zu diesen "Weiterverwendern" aus der NVA. Er wird 1993 schließlich ganz von der Bundeswehr übernommen. Seine erste Stationierung: Wentorf bei Hamburg.

Viele von Holgers alten Kameraden müssen sich einen anderen Beruf suchen oder bleiben arbeitslos. Manche beginnen zu trinken, Familien zerbrechen.

Patrick muss Bewerbungen schreiben

Nachdem Patrick 2006 in Anklam seinen Schulabschluss macht, braucht er einen Ausbildungsplatz. Es folgen zahlreiche Bewerbungen. Patrick fühlt sich zu dieser Zeit "ein wenig abgehängt".

In der Zuckerfabrik Anklam absolviert Patrick eine Ausbildung, wird aber letztlich nicht übernommen. Er macht eine weitere Lehre und findet danach eine sichere Arbeit als Verwaltungsfachangestellter in der Kreisverwaltung des Landkreises Vorpommern-Greifswald.

Patrick will sich in viele Bereiche des Lebens einbringen. Das gilt zum einen für Freizeitaktivitäten.

Zum anderen will er wissen, wie sich die Dinge in seiner Region in den 30 Jahren entwickelt und wie die Menschen damals die DDR-Zeit erlebt haben. In der Schule ist ihm dieses Kapitel der Geschichte viel zu kurz gekommen.

Holger und die Möglichkeiten des Regimes

Holger erzählt, er habe der DDR viel zu verdanken. Als Kind und Jugendlicher macht er viel Sport (Judo, Leichtathletik). Er ist Leistungssportler, wird gefördert und kommt auf die Sportschule, wo er rudert. Zur NVA geht er, weil er Sportoffizier werden will.

Er ist in Sachsen geboren und aufgewachsen - im "Tal der Ahnungslosen", wie er sagt. Später habe er zwar mit seiner Frau viel diskutiert, die eine sehr kritische Haltung hat. Aber letzten Endes sei man "Gefangener des Systems" gewesen, "man ist da nicht ausgebrochen."

Er habe vieles von frühester Kindheit an akzeptiert - dass er den Opa im Westen nicht besuchen kann. Und auch, dass er nicht zum Studium an die Militärakademie nach Dresden darf, weil sein Halbbruder 1985 einen Ausreiseantrag in die Bundesrepublik stellt.

Veränderungen auf allen Ebenen

Von Mitte der 1990er-Jahre an ist Holger in Hagenow in Mecklenburg-Vorpommern stationiert und in zahlreichen Auslandseinsätzen: Kosovo, Bosnien, Afghanistan.

Er bezeichnet sich als Soldat zweier deutscher Armeen und betont, dass er sich in seinem Leben nichts vorzuwerfen habe.

Patrick organisiert für den Landkreis die Wahlen mit. Er merkt, dass sich in Anklam vieles verändert hat und auch, dass die Unzufriedenheit gewachsen ist. Nicht plötzlich, sondern stetig. Das liest er auch an den Ergebnissen der Wahlen ab, bei denen NPD und AfD viele Stimmen bekommen.

Patrick freut sich aber auch, wie gut Anklam sich seit seiner Kindheit entwickelt hat, als die Stadt noch "zum Davonlaufen" ausgesehen habe.

Umso mehr ärgert es ihn, wenn er mit pauschalen Urteilen konfrontiert wird, Vorpommern sei der "rechte Rand der Republik". Als Parteiloser sieht er sich als Lokalpatriot und verteidigt seine Region. Er betont: "Ich wähle nicht so. Ich finde es auch nicht gut, wenn andere es tun. Ich kann aber verstehen, warum sie es machen." Wenn er sagt, wo er herkommt, bekomme er oft zu hören, er solle mal schön still sein, er komme ja aus dem tiefsten Osten.

Holger unterstützt eine Familie aus dem Kosovo finanziell. Er ist ehrenamtlich in der Kommunalpolitik und als Schöffe engagiert. 30 Jahre nach dem Mauerfall ist er mit 60 aus der Bundeswehr in den Ruhestand verabschiedet worden.

Holger unterstützt eine Familie aus dem Kosovo finanziell. Er ist ehrenamtlich in der Kommunalpolitik und als Schöffe engagiert. 30 Jahre nach dem Mauerfall ist er mit 60 aus der Bundeswehr in den Ruhestand verabschiedet worden.

Holger fühlt sich mittlerweile als Mecklenburger und will nicht wieder weg. Er liebt das Landleben und möchte dort alt werden.

Auch Patrick engagiert sich ehrenamtlich und hat eine Volleyball-Breitensport-Liga gegründet.

Auch Patrick engagiert sich ehrenamtlich und hat eine Volleyball-Breitensport-Liga gegründet.

Er wünscht sich, dass 30 Jahre nach dem Mauerfall nicht mehr so viele junge Menschen gezwungen sind, aus dem Osten wegzuziehen.

Neu geboren 1989

Ein Storytelling des NDR
mit Unterstützung der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Redaktion: Siv Stippekohl, Marcus Bensemann, Gitte Alpen (Gestaltung), Jochen Lambernd, Stefanie Lambernd, Marvin Milatz (Infografik), Joshua Zonnekein (Schnitt+Colourgrading)

Recherche:
Thomas Balzer, Cornelia Helms, Carolin Kock, Kathrin Matern, Katrin Richter, Frank Stuckatz

Kamera: Lars Nieswandt, Kristin Prüßing

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