Mauerfall:
Neu geboren 1989

Frei sein

Mauerfall 1989

Das Jahr 1989 steht für Veränderung: Damals 30-Jährige müssen neue Wege finden. Neugeborene starten in ein Leben ohne DDR. Menschen der Jahrgänge 1959 und 1989 verbinden ganz unterschiedliche Dinge mit Mauerfall und Wendezeit.

In dieser Folge des NDR Projekts "Neu geboren 1989" treffen Matthias und Lisa aufeinander, die sich zuvor nicht gekannt haben.

Das Jahr 1989 steht für Veränderung: Damals 30-Jährige müssen neue Wege finden. Neugeborene starten in ein Leben ohne DDR. Menschen der Jahrgänge 1959 und 1989 verbinden ganz unterschiedliche Dinge mit Mauerfall und Wendezeit.

In dieser Folge des NDR Projekts "Neu geboren 1989" treffen Matthias und Lisa aufeinander, die sich zuvor nicht gekannt haben.

Wie haben sich die Menschen in Ostdeutschland gefühlt, als die Mauer plötzlich offen war? Das möchte die 30-jährige Lisa von Matthias wissen, der am 9. November 1989 so alt ist wie sie heute.

1989: Auf zum anderen Planeten

In der Nacht des 9. November 1989 fährt Matthias Bargholz los, er sucht die Freiheit und landet in Lübeck. "Ich weiß es noch wie heute", erzählt er. "Das war wie eine Mondlandung. Wirklich so wie auf einem anderen Planeten, so hat sich das angefühlt."

Matthias ist damals 30 Jahre alt und freischaffender Künstler. Er lebt in einem Haus in der Schaalseeregion, das er eigentlich kaufen will: Der Alt-Eigentümer war in den Westen verschwunden, der Vertrag schon unterschriftsreif. Als die Mauer fällt, möchte der Alt-Eigentümer sein Haus zurück, der Kauf zerschlägt sich. Matthias muss sich eine andere Bleibe suchen. "Innerhalb weniger Wochen und Monate flog einem alles um die Ohren", erzählt Matthias. "Und jeder musste sehen, wie er klarkommt."

Lisa Voss wird im Januar 1989 geboren. Zu diesem Zeitpunkt leben ihre Eltern noch bei den Großeltern, wie viele junge Paare in der DDR. Wohnraum ist knapp.

Erst mit dem Baby und der Heirat wird ihr Antrag auf eine eigene Wohnung bewilligt, in die sie noch vor dem Mauerfall einziehen. Weil die Eltern arbeiten, verbringt Lisa viel Zeit bei ihren Großeltern in Groß Kiesow, einem Dorf zwischen Anklam und Greifswald.

Viel spricht Lisa nicht mit den Eltern über die Zeit des Umbruchs und das Leben in der DDR. Schon früh entdeckt sie ihre Leidenschaft fürs Schauspielern und weiß, dass sie dies auch beruflich machen will.

Nach dem Abitur bewirbt sie sich an der Theaterakademie in Zinnowitz und wird prompt aufgenommen. Heute fragt sie sich manchmal, ob es auch an anderen Schauspielschulen so einfach geklappt hätte. Nahtlos wechselt sie mit dem Intendanten an die Bühne in Neustrelitz.

Alles für die Kunst

Auch Matthias träumt schon als Kind davon, Künstler zu werden. Seit er das erste Mal an Ölfarben gerochen hat, weiß er, was er will: Malen! Er wächst in Halle auf und geht nach dem Schulabschluss zur Lehre in die Porzellanmanufaktur, lernt viel von einem Formgestalter, der ihn fördert.

Nach der Lehre wird Matthias zum Wehrdienst eingezogen. Diese Erfahrung ist ein Schock für ihn. Er wird nach Berlin geschickt und muss an der Grenze dienen. Dort wird am 4. November 1980 der Wehrpflichtige Ulrich Steinhauer erschossen - von einem anderen Grenzposten, der in den Westen fliehen will. Matthias kennt den Getöteten.

Viele junge Wehrdienstleistende sind alles andere als überzeugte Grenzsoldaten, sondern zählen die Tage, bis sie wieder aus dem Dienst entlassen werden. Matthias hat in dieser Zeit einen schweren Autounfall, liegt lange im Krankenhaus. Er hält durch, weil er sein Ziel, Künstler zu werden, nicht aus den Augen verliert. Als er von der Fachschule für angewandte Kunst in Heiligendamm (FAK) angenommen wird, ist das für ihn wie ein Gewinn im Lotto.

Endlich Freiraum in der Kunst! Die Studenten ecken an, beispielsweise mit einer Parodie auf Wahlen in der DDR.

Ein Professor hält schützend die Hand über seine Studenten. Matthias freundet sich mit ihm an. Viele Jahre später erfährt er, dass der inzwischen verstorbene Professor als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) für die Stasi tätig gewesen ist und auch über ihn berichtet hat.

Nach dem Studium wird Matthias 1985 in das Fliesenwerk in Boizenburg delegiert. Er entwirft Dekore für Fliesen, dabei ist er Maler und Grafiker. "Völlig sinnlos", sagt er über diese Zeit. Nach der sogenannten Berufslenkung kündigt Matthias 1987 und mietet sich gemeinsam mit einem anderen Künstler ein Atelier, um frei zu arbeiten.

Er denkt bei sich, dass es dann eben so ist. Die Angst, erzählt er, habe einfach irgndwann nachgelassen. Matthias träumt davon, nach Frankreich zu reisen. Da das nicht geht, beantragt er eine Reise in die Mongolei. Später erarbeitet er eine Mappe, die sich mit dem westdeutschen Künstler Joseph Beuys und dessen Begriff von Freiheit auseinandersetzt.

Ende September 1989 hat Matthias in Schwerin einen Termin vor der Kommission des Künstlerbundes der DDR, die über seine Aufnahme zu entscheiden hat. Beworben hat er sich mit seiner Mappe über Beuys - und wird abgelehnt. Matthias ist fassungslos. Im Herbst 1989 engagiert er sich im Neuen Forum, merkt aber bald, dass diese DDR nicht mehr zu retten ist. Nach dem Mauerfall muss er erst einmal raus, fährt mit einem alten Passat durch West-Europa, um seinen Horizont zu erweitern. Er habe "das Ganze mal von außen anschauen" wollen, sagt er über diese Zeit. Und er wollte erfahren, wie der Kunstmarkt im Westen funktioniert.

Jahre später erhält er eine Einladung zur Eröffnung einer Kunstausstellung in der Kaserne, in der er während seines Wehrdienstes gewesen ist.

​Die DDR-Erfahrung sei einfach nicht verarbeitet gewesen, erzählt Matthias der 30 Jahre jüngeren Lisa. Die Einsicht in seine Stasi-Akte habe dann noch einmal manches seiner eigenen Geschichte ins rechte Licht gerückt.

Aufbruch in die Freiheit

Matthias arbeitet auch nach 1989 frei. Er stellt aus und kommt zum Film, fertigt Kulissen für Produktionen mit Leander Haußmann und Detlev Buck. Die Arbeit an den Kulissen für die Komödie "NVA" sind für ihn auch ein Stück Aufarbeitung seiner persönlichen Geschichte, wie er sagt: befreiend.

Lisa wächst nach 1989 ebenfalls in einer künstlerischen Szene auf - erlebt den Begriff der Freiheit aber ganz anders. Sie erzählt, dass sie manchmal ganz vergesse, warum ihre Verwandten nie um die Welt gereist sind. So selbstverständlich sei sie mit Reise-, Entfaltungs- und Meinungsfreiheit groß geworden.

Diese Selbstverständlichkeit könne aber auch zum Problem werden. Ihrer Generation stehe heute alles offen, aber viele wüssten gar nicht mehr, was sie wirklich wollen. Die 30-jährige Schauspielerin hofft, dass die "Fridays for Future"-Bewegung ein Anzeichen dafür ist, dass sich an dieser Orientierungslosigkeit etwas ändert.

Lisa sagt 30 Jahre nach dem Mauerfall: "Ich glaube schon, dass die Wende viel mit den Menschen gemacht hat, weil sie viel gewonnen, aber verloren haben."

Im 30. Jahr nach dem Mauerfall, an ihrem 30. Geburtstag, hat Lisa ihren Sohn Gustav zur Welt gebracht. Manchmal fragt sie sich, was sie ihm wohl in 30 Jahren über das Jahr seiner Geburt zu erzählen hat.

Matthias erinnert sich, dass er mit 30 gedacht hat, er würde nichts mehr erleben. Er sei sicher gewesen, die Mauer stehe auch in 100 Jahren noch. Allerdings, sagt er im Rückblick, sei am Leben in der DDR auch nicht alles schlecht gewesen. Darüber diskutiert er oft mit der Familie seiner westdeutschen Frau. Diese, sagt er, habe als Lehrerin aus Westdeutschland in ihrer ostdeutschen Schule auch viel Unverständnis erlebt.

Matthias sagt 30 Jahre nach dem Mauerfall: "Was uns angespornt hat, war die Freiheit."

Er ist heute noch immer freier Künstler, sucht stets nach neuen künstlerischen Wegen für sich. In der früheren Grenzregion um den Schaalsee in Mecklenburg hat er sein Atelier und bietet Malkurse an.

Lisa führt als Schauspielerin ein unstetes Berufsleben ohne viele Sicherheiten. Aber sie hat sich entschlossen, Verantwortung zu übernehmen - ganz besonders für ihren Sohn.

"Wie gelingt es uns, verantwortungsvoll mit unserer Freiheit umzugehen?", fragt sie sich 30 Jahre nach dem Mauerfall.

Neu geboren 1989

Ein Storytelling des NDR
mit Unterstützung der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Redaktion: Siv Stippekohl, Marcus Bensemann, Gitte Alpen (Gestaltung), Jochen Lambernd, Stefanie Lambernd, Marvin Milatz (Infografik), Joshua Zonnekein (Schnitt+Colourgrading)

Recherche: Thomas Balzer, Cornelia Helms, Carolin Kock, Kathrin Matern, Katrin Richter, Frank Stuckatz

Kamera: Lars Nieswandt, Kristin Prüßing

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