LIEBER THOMAS

ZUM 80. GEBURTSTAG VON THOMAS BRASCH

SONNTAG, 16. FEBRUAR, 00.05 UHR IM ERSTEN
AB FREITAG, 14. FEBRUAR, IN DER ARD MEDIATHEK

EINFÜHRUNG

Der Kinofilm „Lieber Thomas“ über das wilde Leben des Dichters Thomas Brasch wurde 2010 von NDR Fiction-Chef Christian Granderath und Zeitsprung-Produzent Michael Souvignier als Koproduktion initiiert; Autor Thomas Wendrich und Regisseur Andreas Kleinert, beide gebürtige Ostdeutsche, wurden schließlich für die Drehbuchenentwicklung und die Regie ausgewählt. Der Schwarz-Weiß-Film kam im November 2021 zum 20. Todestag von Thomas Brasch – inmitten der Corona-Epidemie ins Kino und erhielt bedeutende nationale und internationale Auszeichnungen, darunter neun Deutsche Filmpreise für den besten Film (Michael Souvignier & Til Derenbach), die beste Regie (Andreas Kleinert), das beste Drehbuch (Thomas Wendrich), die beste Kamera (Johann Feindt), die beste Hauptrolle (Albrecht Schuch) und die beste Nebenrolle (Jella Haase). Neben dem NDR waren BR, WDR und ARTE an dieser Kinokoproduktion für die ARD beteiligt. Der Film wird nun zum 80. Geburtstag des Künstlers Thomas Brasch im Ersten und in der ARD Mediathek präsentiert.

INHALT

Die DDR ist noch jung, aber Thomas Brasch passt schon nicht mehr rein. Es ist vor allem sein Vater Horst, der den neuen deutschen Staat mit aufbauen will. Doch Thomas, der älteste Sohn, will lieber Schriftsteller werden. Thomas ist ein Träumer, ein Besessener und ein Rebell. Schon sein erstes Stück wird verboten und bald fliegt er auch von der Filmhochschule. Als 1968 die sowjetischen Panzer durch Prag rollen, protestiert Brasch mit seiner Freundin Sanda und anderen Studenten mit einer Flugblattaktion in den Straßen Berlins – und rennt vor die Wand. Sein eigener Vater verrät ihn und Thomas Brasch kommt ins Gefängnis. Auf Bewährung entlassen, arbeitet Brasch in einer Fabrik und schreibt über die Liebe, die Revolte und den Tod. Aber mit einem wie ihm kann man in der DDR nichts anfangen. Ohne Aussicht, gehört zu werden, verlässt Thomas mit der Frau, die er liebt, die Heimat. Im Westen wird er anfangs bejubelt, dreht mehrere Kinofilme, wird zweimal nach Cannes eingeladen. Doch Brasch lässt sich nicht vereinnahmen. Auch nach dem Mauerfall, zurück in Ost-Berlin, ist er weit davon entfernt, Ruhe zu geben

BESETZUNG

THOMAS
Albrecht Schuch

KATARINA
Jella Haase

THOMAS, ÄLTER
Peter Kremer

THOMAS, KIND
Claudio Magno

VATER
Jörg Schüttauf

MUTTER
Anja Schneider

KLAUS/GLADOW
Joel Basman

SYLVIA
Emma Bading

GERIT
Luisa-Celine Gaffron

ERICH HONECKER
Jörg Schüttauf

REGISSEUR
Matthias Bundschuh

BETTINA
Paula Hans

JEAN
Zoé Valks

VLADIMIR
Adrian Julius Tillmann

STAB

REGIE
Andreas Kleinert

DREHBUCH
Thomas Wendrich

KAMERA
Johann Feindt

KOSTÜMBILD
Anne-Gret Oeme

SZENENBILD
Myrna Drews

MASKE
Uta Spikermann, Grit Kosse

MUSIK
Daniel Michael Kaiser

SCHNITT
Gisel Zick

TON
Andreas Walther

CASTING
Karen Wendlland

PRODUKTIONSLEITUNG
Kirsten Sohrauer, Daniel Buresch (NDR)

PRODUZENTEN
Michael Souvignier, Till Derenbach, Christian Granderath (NDR)

REDAKTION
Claudia Simionescu (BR), Frank Tönsmann (WDR), Andreas Schreitmüller (Arte)

LÄNGE
144:25 Minuten

DREHORTE
Berlin, Frankreich, Polen, Bochum, Solingen, Köln, Leverkusen

DREHZEIT
28.09.2019 – 20.11.2019

„Lieber Thomas“ ist eine Produktion der „Zeitsprung Pictures“ in Koproduktion mit NDR, BR WDR und ARTE, gefördert von Film- und Medienstiftung NRW, Medienboard Berlin-Brandenburg, BKM - Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie Förderprogramm NEUSTART KULTUR, FFA Filmförderungsanstalt und DFFF Deutscher Filmförderfonds. Den Weltvertrieb hat The Match Factory übernommen.

Outlaw-Blues

Fiction Chef Christian Granderath über die Rebellion von Thomas Brasch

Er war in den Siebziger- und Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts fast so etwas wie ein Rockstar. Charismatisch, scharfsinnig, selbstbewusst, sensibel und innerlich zerrissen, ein cooler und bisweilen brutaler Beobachter, umstritten, berühmt und für manche auch berüchtigt – und nach dem Mauerfall 1989 irgendwann dann fast vergessen.

Der Name Thomas Brasch begegnete mir das erste Mal, als ich 1976 für die Schülerzeitung einen Artikel über das Kölner Konzert und die anschließende Ausbürgerung von Wolf Biermann schrieb. Ein junger ostdeutscher Schriftsteller, der, zweimal zwangs-exmatrikuliert, 1968 aus politischen Gründen im Knast gesessen hatte, in der DDR nicht publizieren durfte und trotzdem nur widerwillig von Ost- nach West-Berlin übersiedelte und bald darauf sein erstes Buch mit dem programmatischen Titel „Vor den Vätern sterben die Söhne“ veröffentlichte – das klang nach Outlaw und „live fast & die young“ und machte sofort neugierig.

In Westdeutschland war damals der Kampf gegen die Berufsverbote ein großes Thema; wir wollten uns jenseits von Journalismus auch via Kunst ein Bild über die und das da drüben in der Deutschen Demokratischen Republik machen. Sänger und Schriftsteller wie Wolf Biermann, Rainer Kunze, Jürgen Fuchs und eben Thomas Brasch hatten dort offenbar die Macht, mit ihren Worten und Werken System und Staat zu erschüttern und unerträglich zu werden. Ohnmacht, Verbote, Zensur, Ausbürgerungen und widerwillige Übersiedlungen in die Bundesrepublik und nach West-Berlin waren die Folge. Brasch klang dabei sofort wie eine merkwürdig anarchische und rebellische Stimme von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs, der auf dem Primat der Kunst beharrte und das Dissidententum nicht wie eine Monstranz vor sich hertrug.

„Vor den Vätern sterben die Söhne“ erschien 1977, kurz nach „Anarchy in the U.K“, dem ersten Album der Sex Pistols. Braschs Bestseller las sich nicht wie Punk-Literatur, aber bei der Lektüre war trotzdem ein eigentümlicher „No Future“-Klang hörbar. Doch statt Wut und Empörung dominierte Intellekt, gepaart mit kühler Melancholie erzählte er komplex von Liebe, Revolte und Tod in der DDR. Unter einem Himmel aus Stahl wollte der Autor nur für sich stehen und sich von nichts und niemandem vereinnahmen lassen. Moralische Schreiberei war seine Sache nicht.

1980 erschien der Gedichtband „Der schöne 27. September“, der bei uns einschlug wie eine Bombe. Kunst kann unter die Haut gehen und ins Mark treffen - und den Blick auf die Welt verändern. Auch deshalb gehört Brasch mit seinen betörend musikalischen Gedichten zu den faszinierendsten deutschen Schriftstellern. Unversöhnt und mit scharfem Blick aus der Distanz erzählen sie mit großer Zärtlichkeit von Mord und Totschlag, Liebe und Tod, von Angestellten und Attentätern, Junkies und Rockern und reflektieren die Geschichte eines wüsten, zerrissenen Landes. „Schlimmer Traum“ brachte gleich zu Beginn die Verhältnisse und das Lebensgefühl mit einem ebenso coolen wie romantischen Sound auf den Punkt:

Schlimmer Traum

1
Die oben waren sind immer noch oben
Wer fällt wird aufgehoben

2
Die unten waren sind aufgestiegen
Wer unterliegen will muß siegen

3
Die schweigen wollen müssen reden
Keiner für sich Jeder für jeden

4
Die hassen wollen müssen lieben:
Alle ins Paradies vertrieben

Seine Wahrnehmung als Outlaw auch im Westen verstärkte sich noch, als er beim Bayerischen Filmpreis am 16. Januar 1982 für einen Skandal sorgte. Während der live im Bayerischen Fernsehen übertragenen Preisverleihung begründete er, warum er aus der Hand eines reaktionären Politikers wie Franz Josef Strauß das Preisgeld für seine Gangsterballade „Engel aus Eisen“ akzeptierte. Bei den toten Kriminellen seines Films bedankte er sich für ihr Vorbild und bei der Filmhochschule der DDR für seine Ausbildung. Damals waren Bayern und der BR noch tiefschwarzes CSU-Country – für die anwesende Nomenklatura klang das nach „Anarchy in Bavaria“. Es kam zu Tumulten im Festsaal, der BR verzichtete in der Folge für viele Jahre auf Live-Übertragungen des Filmpreises. „Als Künstler im Zeitalter des Geldes“ war Brasch jemand, der selbstbewusst Haltung zeigte, Widersprüche suchte und aushielt, dabei den Eklat nicht scheute und sich zielsicher zwischen allen Stühlen positionierte – bereit, dafür den Preis zu zahlen. Immer wieder suchte er sich auch Kriminelle, über die er ein Spiegelbild der Verhältnisse zeigen wollte. Werner Gladow, Gary Gilmore, Klaus-Dieter Langer sind nur einige davon.

Ein innerlich zerrissenes, exzessives Leben, Drogen, der Mauerfall und Untergang der DDR und der Tod des Vaters haben Thomas Brasch in den 90ern ausgebrannt und entwurzelt, so heißt es, und ihm die Kraft genommen, eine geeignete Form für sein Opus Magnum über den Mädchenmörder Brunke zu finden. „There’s no success like failure“, sang der Sänger Dylan vor Thomas Brasch 1978 in der Deutschlandhalle - schlussendlich waren alle seine Versuche, aus der eigenen Haut zu entkommen, wohl gescheitert. Im November 2001 ist dieser faszinierende und wichtige Autor und Regisseur der Nachkriegsgeneration viel zu früh gestorben, bis heute ein schwerwiegender Verlust.

Von seiner Familiengeschichte und dem atemberaubenden Verrat des Vaters am eigenen Sohn habe ich detaillierter erst nach seinem Tod erfahren. Seitdem hatte ich den Plan, in einem Spielfilm inspiriert von diesem leidenschaftlichen Leben im Nachkriegsdeutschland zu erzählen und „Life and Times of Thomas Brasch“ und sein komplexes Werk auch darüber in Erinnerung zu halten. "Lieber Thomas" war das erste Projekt, das ich dann beim NDR in Angriff genommen habe. Der Produzent Michael Souvignier hat dies nach einem ersten Gespräch vor vielen Jahren aufgegriffen, NDR, BR, ARTE und der WDR haben diesen Kinofilm unterstützt. Emmy-Preisträger Andreas Kleinert und Thomas Wendrich sind in der DDR aufgewachsen und kennen die Verhältnisse in beiden Teilen Deutschlands gut. Die beiden erzählen nicht nur von einem brutalen Vater-Sohn Konflikt, einer großen Liebe und von Sex & Drugs & Rock’n’Roll, sondern machen zugleich auch eine Liebeserklärung an einen Künstler, der Einsamkeit unbedingt als politischen und nicht als psychologischen Moment begreifen wollte. „Lieber Thomas“ wirft einen Blick auf ein Leben, das Brasch in seinem Gedicht „Lied“ melancholisch, zärtlich und persönlich besungen hat:

Lied

Wolken gestern und Regen
Jetzt ist keiner mehr hier
Ich bin nicht dagegen
Singe und trinke mein Bier

Tränen heute und Lieder
Bäume verdunkeln den Mond
Ich komme immer wieder
Dorthin wo keiner mehr wohnt

Blätter morgen und Winde
Bist du immer noch hier
Ich besinge die Rinde
Der Bäume und warte bei Dir“

„Let’s Talk About Brasch“

Die Produzenten Michael Souvignier und Till Derenbach über ein Traumprojekt

„Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“ 1

So lautet einer der berühmtesten Sätze von Thomas Brasch. Er steht sinnbildlich für den Menschen im Mittelpunkt unseres Filmes. Brasch war ein Suchender und ein Entschiedener zur gleichen Zeit. Schon als Junge legte er fest, dass er Schriftsteller werden wolle. Davon ließ er sich nicht abbringen. Damit beginnen auch die Konflikte in seiner Familie, insbesondere mit seinem Vater. Was Brasch als Lebensmodell in sich geboren hat, ist Ausdruck seines ganz eigenen Muts. Eines Mutes, dem man nicht so oft begegnet. Er ging seinen eigenen Weg, ohne jemals angekommen zu sein. Denn da, wo er war, wollte er wieder weg, wie er es selbst im Stück „Der Papiertiger“ beschreibt:

„Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber / wo ich bin will ich nicht bleiben, aber / die ich liebe will ich nicht verlassen, aber / die ich kenne will ich nicht mehr sehen, aber / wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber / wo ich sterbe, da will ich nicht hin: / Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“ 2

Thomas Braschs Geschichte ist auch eine deutsche Geschichte. Aufgewachsen in der DDR, mit der elterlichen und der staatlichen Autorität in einem ständigen Konflikt, vom eigenen Vater verraten, inhaftiert. Dann übergesiedelt in den Westen, wie so viele. Aber auf seine sehr eigene Weise. Und auch im Westen ist er nicht heimisch geworden. Seine Power war so überwältigend, dass die Menschen in seiner Nähe auch schon mal in Deckung gehen mussten. Nie hat er sich einkaufen lassen. Nicht vom Literaturbetrieb, nicht von der Filmindustrie, nicht von den Medien. Wahrscheinlich noch nicht mal von sich selbst.

Seinen Weg ging er konsequent bis zur Selbstzerstörung. Er war eine Kerze, die an beiden Enden gebrannt hat. Seine Energie war wie ein Kraftfeld, das anziehend wirkte. Am Ende hat es ihn selbst verschlungen. Alle Menschen, die mit Thomas Brasch zu tun hatten, bekommen leuchtende Augen, wenn sie von ihm sprechen. Trotzdem droht er, leider, in Vergessenheit zu geraten.

Uns ist es wichtig, dem Menschen Brasch auf die Spur zu kommen, wir folgen ihm von seiner Kindheit bis zu den letzten Tagen. Man soll sehen, was für ein außergewöhnlicher Mensch und Künstler er war. Gleichwohl ist unser Film voller Lust am Leben. Wenn der Film zu Ende ist, soll man das Kino verlassen und selbst bereit sein, die Welt zu erobern.

Unser Anspruch ist hoch. Sonst müsste man einen solchen Film gar nicht erst anpacken. Wir wollten kein konventionelles Biopic machen. Braschs Zerrissenheit kommt aus der Zerrissenheit der ganzen Familie, aus dem Konflikt mit seinem Vater. Das zieht sich wie ein roter Faden durch sein ganzes Leben und findet keinen Abschluss. Wenn man einen Film über Brasch macht, kann man also nicht einfach biografische Eckdaten abhaken. Wir wollten Brasch und seinem Leben und seiner Erfahrungswelt so nahe kommen wie möglich und, soweit sie noch existieren, an Originalschauplätzen drehen. Eine wichtige Entscheidung von Andreas Kleinert war es dabei, in Schwarzweiß zu drehen. Das verleiht dem Film eine ganz unverkennbare Eigenheit.

Mit der Fertigstellung des Films geht eine neunjährige Reise zu Ende, bei der Zeitsprung Pictures von Anfang an mit dabei war. Zunächst mit Christian Granderath, der den Film initiiert und gemeinsam mit seinen Kollegen vom BR, ARTE und WDR koproduziert, dann mit Regisseur Andreas Kleinert, der zur Treatmentphase zu uns kam, und schließlich mit Autor Thomas Wendrich, der das originelle Drehbuch verfasst hat. Im Anschluss begannen gemeinsam die Überlegungen zur Besetzung. Albrecht Schuch war unsere erste und einzige Wahl. Wir konnten uns keinen anderen Schauspieler für die Hauptrolle vorstellen. Aber auch die anderen Darsteller waren Wunschkandidaten: Jella Haase. Jörg Schüttauf. Anja Schneider. Ioana Jacob. Joel Basman. Emma Bading. Peter Kremer. Mit diesem Team, diesem Ensemble, ging für uns ein Traum in Erfüllung!

Wenn man einen Film über einen Ausnahmekünstler wie Thomas Brasch macht, wird man zwangsläufig kritisch beäugt. Das war uns klar. Bestimmt wird nicht jeder, nicht jede, „seinen“ oder „ihren“ Thomas Brasch wiederfinden. Aber unsere Aufgabe war auch nie, den einen, den ultimativen Brasch-Film zu machen. „Von mir aus soll es ganz viele tolle Filme über Thomas geben“, hat uns seine Schwester Marion Brasch, die letzte Überlebende einer faszinierenden Familie, ganz beeindruckt gesagt, als wir ihr im Spätherbst 2020 als Erste unseren fertigen Film gezeigt haben. Sie hatte auch schon die Dreharbeiten besucht.

Besser als Marion kann man es kaum sagen. Es sollen möglichst viele Thomas Brasch wiederentdecken. Denn wo wir jetzt sind, wollen wir nicht bleiben.

1 & 2: Auszug aus Thomas Brasch, Der Papiertiger, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1977

„Ein Dichter, der Mauern einreißt“

Ein Gespräch mit Drehbuchautor Thomas Wendrich

In Ihren Worten: Wer ist Thomas Brasch?
Thomas Brasch, das ist: der Künstler, die Privatperson, der Filmemacher, der Dichter, der Übersetzer, der Dramatiker … Es gibt so viele Facetten. Ich selbst habe ihn erlebt am Berliner Ensemble, wo ich gespielt habe. Erstmals wahrgenommen habe ich ihn aber als Übersetzer von Tschechow. Er hatte einen dramatischen, einen dramaturgischen und einen sprachlichen Zugriff auf das Stück. Ich war sehr beeindruckt. Ich las seinen Erzählband, seine Gedichte. Er hat so viel gearbeitet und geschrieben, dass man niemals zu einem Ende kommen kann. Und vieles, was ich von ihm las, hat mich sehr berührt.

Mit welcher Haltung haben Sie sich der Figur genähert?
Die filmische Annäherung an Thomas Brasch ist für mich zuerst eine Annäherung an die Zeit gewesen, in der er gelebt hat. Wir legten unseren Fokus auf in unseren Augen entscheidende Phasen dieses Lebens. Man muss eine Auswahl treffen, sonst muss man in einem Film zwangsläufig an einem monolithischen Riesen wie Brasch scheitern. Wir interessierten uns für die Periode, in der er ein Dichter wird, in der er Mauern, die ihn umgaben, einreißt.

Was zeichnet die Persönlichkeit Brasch aus?
Vieles. Und wir beginnen damit, von einem Jungen zu erzählen, der schon früh beschränkt wird, sich aber nicht beschränken lässt. Brasch selbst hat einmal gesagt, er habe sich immer in einem Überlebenskampf befunden. Er hat immer angegriffen, hat immer versucht, seinen Lebensweg zu bewahren und zu beschützen. Er sagte, das ging schon im Kindesalter los. Er wurde gemobbt, weil er Funktionärssohn war – da schlug er eben zurück. Zugleich war es ihm zu wenig, was seine Eltern wollten. Da ging er ebenfalls in Opposition. Irgendwann war die Mauer da. Irgendwann war die Borniertheit des Theaterbetriebs da. Alles war immer zu klein oder zu eng. Das prägt den Autor Brasch.

Wie sind Sie an die Arbeit herangegangen? Wie groß war Ihr Respekt?
Respekt hatte und habe ich immer, das ist ja ganz klar. Aber ich muss natürlich eine Haltung finden, auch respektlos zu sein gegenüber meinem Sujet. Thomas Brasch ist ein Mensch, der Grenzen überwunden, aber auch Schäden angerichtet hat. Dafür brauchen wir radikale Lösungen, denn diese Kompromisslosigkeit und Leidenschaft muss sich in den 150 Minuten unseres Films widerspiegeln. Meine Arbeit begann mit sehr viel Recherche, die sich über mehrere Jahre hinzog. Vieles ergibt sich dabei. Ich spreche mit Menschen, erhalte weitere Kontakte. Ich entdecke neue Zusammenhänge, die alles in einem anderen Licht erscheinen lassen. Ich lerne viel über die Zeit, in der er gelebt hat. Ich weiß, was die Leute über ihn geschrieben haben und dass sich das eventuell von dem unterscheidet, was sie über ihn dachten. Irgendwann merke ich aber auch, dass es Berichte über sein Leben gibt, die nicht stimmen können – und die einzige Quelle dafür ist am Ende Thomas Brasch selbst. Ich realisiere, dass er schon zu Lebzeiten ganz geschickt sein Leben variiert hat. Das fand ich als Autor sehr spannend. Und da ist der Schritt hin zu einem Film über ihn auch nicht mehr weit.

Man darf sich da nicht aufs Glatteis führen lassen?
Wenn ich alles glaube, was mir erzählt wird, dann bin ich irgendwann verraten und verkauft. Mir war es wichtig, Leute zu treffen, die ihn gekannt haben. Sie konnten mir Aufschluss geben und ich konnte angelesenes Wissen abgleichen. Im Leben eines Menschen ist nichts einfach, es gibt keine simplen Zusammenhänge. Bei Thomas Brasch gilt das umso mehr, da er sich nicht vereinnahmen lassen wollte, da er die Lesart anderer Menschen über ihn selbst stets per se schon abgelehnt hat. Er hat sich beispielsweise nie als Opfer oder „Dissident“ gesehen. Wenn überhaupt, dann war er ein Täter.

Was soll der Film bewirken?
Ein großes Anliegen ist es, mit dem Film das Bedürfnis im Zuschauer zu wecken, Thomas Brasch wieder zu lesen und zu entdecken. Es lohnt sich. Sein Blick auf die Welt ist erhellend und spannend. Vielleicht kann der Film aber auch anregen, sich einzumischen. Sich nicht mit allem abzufinden. Thomas Brasch hat deutlich gesagt, wenn ihm etwas nicht gepasst hat. Er ist dahingehend ein echtes Vorbild. Seine Kritik hatte Hand und Fuß, sie war begründet und er konnte sie begründen. Er hat Vorschläge gemacht, mit denen man sich auseinandersetzen kann. Und schließlich wünsche ich mir, dass unser Publikum bewegt wird von Thomas Braschs Leben, das sehr fröhliche Seiten hatte, aber auch ein durch und durch tragisches war.

„Ein Blick von uns auf Brasch“

Ein Gespräch mit Regisseur Andreas Kleinert

Sie haben an derselben Filmhochschule studiert wie Brasch.
Zwanzig Jahre nach ihm. Sein Porträt hängt heute als großes Banner im Foyer der Film-Uni. Thomas Brasch beschäftigt mich, seitdem ich an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg studiert habe. Ich hatte ihn bereits als Dichter gekannt – es wurde aber auch über ihn gesprochen, weil er von dieser Filmhochschule geflogen war, nachdem er 1968 gegen den Prag-Einmarsch Flugblätter verteilt hatte. Zu meiner Zeit von 1984 bis 1989 war in der DDR der Umbruch bereits spürbar. Wir konnten uns mehr und mehr trauen, nachdem anfangs noch der alte Wind wehte. Ich hatte selbst noch zwei Verbotsfilme gedreht, die nicht gezeigt werden durften. 1986 kam Lothar Bisky, der spätere Vorsitzende der Linken, als neuer Rektor der Filmhochschule; er hielt eine schützende Hand über mich. Er sorgte dafür, dass meine gesperrten Filme wieder freigegeben wurden und sogar außerhalb der DDR gezeigt werden konnten, auch wenn ich selbst nicht mitreisen durfte. Das war die entscheidende Wende.

Und es war die Zeit, in der ich auch meine ersten Begegnungen mit dem Filmregisseur Brasch hatte, der einem Mut machte in seiner Radikalität in den noch stalinistisch geprägten Sechzigerjahren. Seine Widerständigkeit ist inspirierend. Wenn man anfängt, Filme zu machen, will man wahrgenommen werden. Konflikt und Reibung sind für einen Künstler dringlich, um zu merken: Du kannst etwas bewirken. Das Schlimmste ist, wenn es keinerlei Reaktionen gibt. Gleichgültigkeit ist tödlich.

Wie viel wussten Sie damals von Brasch?
Brasch fand in der DDR nicht statt. Es gab ein kleines Gedichtbändchen, und das war’s. Unter der Hand hat man sich damals manches aus dem Westen mitbringen lassen. Aber grundsätzlich war es schwer, mehr zu bekommen, auch an alle Filme ranzukommen. Ich kannte also dieses Bändchen, sehr wenige Filme von ihm und wusste von Braschs Schwierigkeiten auf der Filmhochschule. Aber so richtig bewusst wurde mir Brasch erst nach der Wende – auch weil der Produzent, mit dem ich meinen ersten Kinofilm im Westen gedreht habe, auch der Produzent der Brasch-Filme „Engel aus Eisen“ und „Der Passagier – Welcome to Germany“ war: Joachim von Vietinghoff. Er hat mir viel von Brasch erzählt.

Wie würden Sie „Lieber Thomas“ beschreiben?
Braschs Leben ist von barocker Fülle und Komplexität geprägt. Thomas ist ein schwieriger, widersprüchlicher Mensch. Wir sehen einen Mann, der offensichtlich ein pralles Leben mit vielen Erlebnissen und Ereignissen hat. Der immer intensiv und extrem ist, in seinem Leben, in seinem Lieben, in seiner Arbeit. Nichts ist schlimmer als Langeweile. Und langweilig ist Thomas Brasch nie, zu keiner Sekunde.

Es geht um einen Künstler, der sich nie angepasst hat, ähnlich einem Pasolini oder Genet. Wenn man ihn umarmen wollte, hat er sich freigemacht. Er wollte nie so sein, wie andere ihn haben wollten. Unser Film will auch ausrufen: Lasst euch nicht vereinnahmen! Widerstand ist auch Lustgewinn. Alle, die bei der Flugblattaktion dabei waren, die dazu führte, dass Thomas der Filmhochschule verwiesen wurde, sagten uns in Gesprächen, dass die Aktion ihnen auch einen Kick gab, etwas Sinnliches hatte. Man soll den Mut aufbringen zu widerstehen, sich zu verweigern, nicht alles mitzumachen. Dabei ist es wichtig, seinen eigenen Weg zu finden und zu gehen.

Thomas Brasch war ein Mann der Widersprüche – seine Radikalität kann man durchaus auch negativ wahrnehmen. Wie hat das Ihren Film beeinflusst?
Brasch macht es uns nicht einfach, er ist kein strahlender Held, er ist kein Wohltäter. Natürlich klammern wir das nicht aus, weil wir ihn nicht heroisieren wolen. Er war auch rücksichtslos, brüsk, abweisend, verletzend und konnte in seiner extremen Haltung über Menschen hinwegfegen.

Bei Brasch ist das Besondere, dass er bis zu seinem Lebensende die Frauen seines Lebens auf seine Art geliebt hat. Er hat sich nie im Hass von seinen Partnerinnen getrennt, sondern hat stets weiter für sie stark empfunden.

Als ich in der DDR aufwuchs, hatte ich viele emanzipierte, sehr selbstbewusste Frauen um mich, die nicht Zuhause blieben, sondern arbeiten gingen und sich auch darüber definierten. Die Scheidungsrate in der DDR war sehr hoch, auch weil Frauen nicht abhängig davon waren, dass ihre Männer das Geld nach Hause brachten. Sie verdienten ihr eigenes Geld und konnten auf eigenen Beinen stehen. Die Frauen, die wir in unserem Film zeigen, haben ein starkes Selbstbewusstsein, eine extreme Selbstbestimmtheit. Das sollte sich auch in der Besetzung widerspiegeln – Frauen, die für etwas stehen, die sich nichts gefallen lassen.

Was wollen Sie in „Lieber Thomas“ rüberbringen?
Es ist eine sehr moderne Geschichte in unserer chaotisch komplexen Zeit. Um den Film zu schauen, ist es nicht nötig, Thomas Brasch und sein Werk zu kennen. Er ist ein besonderer Mensch, den man gerade in seiner Verquerheit, in seinem ewigen Hadern mit sich und seinen Ansprüchen an sich und andere, lieben kann. Differenziertheit ist uns ein Anliegen. Wir wollen zeigen, warum er geworden ist, wie er war – die Erfahrungen in der Kadettenanstalt, in seinem Elternhaus, besonders mit seinem Vater. Er ist auch so geworden durch seine Entwicklung in einer konkreten historischen Situation.

Aber: „Lieber Thomas“ ist immer ein Blick von uns auf Brasch. Wir behaupten nicht: So war Brasch! Das wäre anmaßend. Es ist ein Erinnern an ihn, ein Nachdenken über Brasch. Wir wagen eine Annäherung, eine Interpretation, eine auf Tatsachen fußende Fiktion eines realen Lebens. Wir wollten keine Dichterbiografie machen, kein Biopic. Das war nicht unser Ansatz, sondern wir arbeiteten von Anfang an eher assoziativ. Der Film soll wie ein atemloser Ritt durch verschiedene Bewusstseinsebenen sein, bei dem jeder seine eigenen Assoziationen haben kann. Wie eine Überforderung, die beim Sehen sinnliche, nahezu traumähnliche Lust macht.

„Eine tägliche Suche“

Drei Fragen an Albrecht Schuch

Wie haben Sie sich der Aufgabe genähert, Thomas Brasch zu spielen?
Als ich zu Beginn der Vorbereitung täglich um die 300 Seiten gelesen habe, befand ich mich in einem ständigen Wechselbad der Gefühle. Himmel auf Erden einerseits, so eine massive, vielschichtige Persönlichkeit spielen zu dürfen. Größte Angst andererseits, dem nicht gerecht werden zu können. Ich habe keinen Anfang und kein Ende gesehen. Die größte Schwierigkeit für mich war, mich von diesem Bild zu lösen, das ich selbst von Brasch hatte und von ehemaligen Weggefährt*innen, die ich getroffen habe, gespiegelt bekam. Ich musste mich lösen von dem Gedanken: So war er! Das ist der Thomas Brasch! Nur so! Wenn ich mich davon nicht löse, kann ich ihn nicht spielen. Dann lastet auf mir so viel Wissen und Wahrheitsaberglaube, dass ich nur noch ersticke und gar nicht mehr loslegen und eine Spielfreude entwickeln kann.

Das war schwer für mich – besonders weil so viele von mir höchst geschätzte Kollegen so klare Erinnerungen an ihn haben. Ich musste das mit erhobenem Haupt innerlich vorbeiziehen lassen und sagen: Leute, ich mache es aber anders. Ich hatte während der Schauspielschule einen Text von ihm in der Hand. Der hieß „Warum spielen?“. Er könnte auch heißen „Warum schreiben?“, weil er ganz grundsätzliche Fragen stellt zur kreativen Arbeit. In diesem Fall ist er aber auf Schauspieler gemünzt. Er lebt vor allen Dingen von widersprüchlichen Aussagen und vielen Fragen. Das mochte ich sehr gerne. Das ist ein Text, der sich lohnt zu lesen. Der auch übertragbar ist für andere künstlerische Bereiche oder gar eine generelle Sinnfrage und Antwort an das Leben ist.

Wie spielt man eine Figur über einen so langen Zeitraum?
Das Drehbuch deckt eine große Zeitspanne im Leben des Thomas Brasch ab. Da überlege ich mir im Vorfeld schon, wo die verschiedenen Stufen sein könnten. Was verändert sich durch den Gefängnisaufenthalt, durch den Vater, der ihn verrät, durch den Westen, in den er kommt, durch die Begegnung mit verschiedenen Autoren, Schriftstellern und Frauen? Meine Entscheidungen sind also schon bewusst. Teilweise versuche ich aber, trotz aller Vorbereitungen, aller Texte, aller Menschen, die ich treffe, es passieren zu lassen, das Unterbewusstsein über mich bestimmen zu lassen. Da hilft das Kostüm: Je schwerer die Jacke, desto unterschiedlicher der Gang. Je mehr Haare usw. In Worte lässt sich das nicht wirklich fassen. Dieses Wunder wünsche ich mir – etwas, das ich nicht beschreiben kann, was sich meiner Wissenschaft entzieht.

Was war, Ihrer Meinung nach, Braschs Motor?
Er ist 1945 geboren und war jemand, der immer und immer wieder Fragen stellt an seine Eltern. Er wird von seinen Eltern verletzt auf eine Art, dass Vertrauensbrüche stattfinden, die so existenziell sind, dass sie sein ganzes Leben bestimmen. Der Vater verrät ihn an die Polizei und er geht in den Knast. Der Vater, der einen Selbstmordversuch unternimmt, weil ihn die Partei ausschließen will. Entscheidende Eckpunkte in seinem Leben waren immens schmerzhaft. Aber man muss aufpassen, wenn man das sagt. Brasch selbst hat sich dagegen verwahrt, vereinnahmt zu werden. Er wollte nicht vereinfacht, greifbar gemacht werden. Man muss die Ereignisse in Braschs Leben verstehen, wenn man eine Emotion für das Spiel vor der Kamera finden will. Man darf aber nicht einfach Striche von A nach B machen. Ich muss nach dem Woher fragen, vielleicht auch nach dem Warum.

Ich darf aber keine Antworten geben, im Sinne von: So war er, das ist er. Das wäre vermessen. Ich weiß doch gar nicht, wer Thomas Brasch war. Jeder seiner Weggefährten und Partner weiß etwas anderes über ihn zu berichten, hat ein ganz eigenes Bild. Vieles ist widersprüchlich. Der Thomas Brasch der Achtzigerjahre war ein anderer Mensch als der Thomas Brasch, der in [den Sechzigerjahren in] der DDR die Filmschule besucht hat. Für mich und alle anderen Beteiligten war es eine tägliche Suche. Jeden Tag aufs Neue haben wir uns gefragt, wer da vor uns stehen soll. Wir haben unseren Thomas Brasch gesucht.

 

Impressum

Herausgegeben von Presse und Kommunikation / Unternehmenskommunikation

Redaktion:
Iris Bents, NDR/Presse und Kommunikation

Gestaltung:
Janis Röhlig, NDR/Presse und Kommunikation

Bildnachweis:
NDR/Peter Hartwig
NDR/Christian Spielmann (Christian Granderath)
NDR/Stephan Pick (Michael Souvignier und Till Derenbach)
NDR/Andreas Höfer (Thomas Wendrich)
NDR/privat (Andreas Kleinert)

Fotos:
www.ard-foto.de

Presseservice:
ARDTVAudio.de

Pressekontakt

Presse und Kommunikation / Unternehmenskommunikation

E-Mail:
presse@ndr.de

Web:
www.ndr.de/presse