Explosives Bargeld

Wie Banden skrupelloser Geldautomaten-Sprenger schnelle Beute machen

Noch nie gab es so viele Geldautomaten-Sprengungen in Deutschland wie im Jahr 2022. Auch der Norden ist stark betroffen, insbesondere Niedersachsen. Die Täter nehmen keine Rücksicht auf Verluste. Zurück bleiben Trümmerhaufen - und in manchen Fällen traumatisierte Anwohner.

Es ist die Nacht auf den 29. Februar 2020. Holger Zwafing und seine Frau schlafen schon. Ihre Wohnung liegt direkt an der Fußgängerzone von Schüttorf in Niedersachsen; unten im Haus das Sport- und Schuhgeschäft der Zwafings, oben ihre Wohnung. Nebenan: eine Filiale der Deutschen Bank.

Im Schlaf nimmt Holger Zwafing erst einen Knall wahr, dann einen zweiten. Plötzlich bekommt er keine Luft mehr, Rauch strömt in die Wohnung.

Nach der Geldautomaten-Sprengung in Schüttorf (Landkreis Grafschaft Bentheim), 29.02.2020

Nach der Geldautomaten-Sprengung in Schüttorf (Landkreis Grafschaft Bentheim), 29.02.2020

Aus der Deutschen Bank neben dem Sportgeschäft schlagen die Flammen fünf, sechs Meter hoch. Heute, etwa drei Jahre später, ist Holger Zwafing immer noch tief erschüttert:

"Für mich war das
versuchter fünffacher Mord."
Holger Zwafing, betroffener Anwohner aus Schüttorf

Die Sprengung in Schüttorf ist bei Weitem kein Einzelfall.

Der Trend

Immer mehr Angriffe auf Geldautomaten

Nach der Sprengung eines Geldautomaten liegen Steinbrocken vor einer zerstörten Sparkassen-Filiale in Edewecht.

Kriminelle haben im Jahr 2022 in Deutschland mehr Geldautomaten als jemals zuvor gesprengt. Im Durchschnitt versuchten sie in jeder Nacht mehr als einen Automaten zur Explosion zu bringen. Das Bundeskriminalamt verzeichnete sogar Nächte mit mehr als fünf Sprengungs-Versuchen deutschlandweit.

Auch im Norden gab es im vergangenen Jahr viele Fälle: 79 Taten verzeichneten die Landeskriminalämter (LKAs) in Schleswig-Holstein, Hamburg und Niedersachsen im Jahr 2022. Darunter sind auch jene, in denen die Täter bei der Vorbereitung gestört wurden oder ohne Beute geflohen sind.

Lediglich in Mecklenburg-Vorpommern blieben die Automaten im Jahr 2022 verschont. Dafür gab es dort Anfang diesen Jahres bereits mehrere Sprengungen.

Die Hotspots

Wo die Täter am häufigsten zuschlagen

Deutsch-niederländische Polizeikontrolle auf der Suche nach Geldautomaten-Sprengern an der Grenze von Niedersachsen zu den Niederlanden

Betrachtet man die Tatorte auf einer Karte, werden mehrere Cluster erkennbar:

Etwa 20 Fälle gab es im westlichen Niedersachsen nahe der niederländischen Grenze.

Rund um Hamburg haben Täter etwa zehn Geldautomaten gesprengt.

Eine ganze Reihe von Automatensprengungen ereigneten sich im süd-östlichen Niedersachsen, entlang der A39 zwischen Salzgitter und Braunschweig und an den benachbarten Autobahnen.

Die Nähe zur Autobahn ist nicht verwunderlich. Immer wieder hat die Polizei Täter in ihren Autos bei der Flucht über die Autobahn verfolgt. Nicht selten sind sie ausgestattet mit hochgerüsteten Autos, die manchmal auch Streifenwagen abhängen.

Die Täter

Der "Audi-Bande" auf der Spur

Ein schwarzer Audi ohne Nummernschilde steht vor dem bayerischen Landeskriminalamt.

Die Staatsanwaltschaft Osnabrück geht davon aus, dass hinter einigen der Taten eine Bande aus den Niederlanden stecken könnte, die aus mehreren hundert Menschen bestehen soll.

Laut einem Lagebild des Bundeskriminalamts waren im Jahr 2021 rund die Hälfte der Tatverdächtigen niederländischer und rund ein Viertel deutscher Staatsangehörigkeit.

"Bei den reisenden Tatverdächtigen aus den Niederlanden handelt es sich überwiegend um Personen aus der Region Utrecht/Amsterdam", heißt es in dem Bericht weiter.

Flucht in die Niederlande mit PS-starken Autos

In Medien ist auch von der "Audi-Bande" die Rede, weil die jungen Männer häufig mit PS-starken Audis unterwegs sind.

Von Bandenstrukturen spricht auch die niederländische Polizei gegenüber dem NDR: "Sie bereiten kriminelle Aktivitäten vor, gehen Risiken mit Sprengstoff ein und fahren mit hoher Geschwindigkeit über niederländische Autobahnen, um nach Geldautomatenüberfällen zu fliehen", sagt Pressesprecherin Suzanne van de Graaf. "Es ist also nicht nur ein Problem für Deutschland, sondern auch für die Niederlande."

Die Methoden

Gas, Sprengstoff, Trainingsräume

Geldautomat in einem Trainingsraum für kriminelle Automaten-Sprenger in den Niederlanden

Was Ermittlerinnen und Ermittlern Sorge bereitet: Während anfangs Gas eingesetzt wurde, um die Automaten zu sprengen, werden jetzt laut BKA überwiegend "feste Explosivstoffe" verwendet. 2019 war das in nur fünf Prozent der Fälle so, 2021 hingegen in 67 Prozent der Fälle.

Trainingsräume für Geldautomaten-Sprenger

Das heißt: Die Täter haben Zugang zu gefährlichem Sprengstoff - und das nötige Training. Bei einer Razzia hat die Polizei in den Niederlanden regelrechte Trainingsräume gefunden, in denen die Täter an gängigen Automaten üben können.

Die Festsprengstoffe verursachen häufig noch verheerendere Schäden an Gebäude und Umgebung als das Gas. Das BKA spricht für das Jahr 2021 von Begleitschäden im mittleren zweistelligen Millionenbereich.

Festsprengstoffe: Mehr Sach- als Beuteschäden

Somit liegen die Sachschäden sogar deutlich höher als die Beuteschäden, die für das Jahr 2021 mit 19,5 Millionen Euro beziffert werden - durchschnittlich also etwas mehr als 100.000 Euro pro vollendeter Tat.

Noch ist bei den Explosionen kein Unbeteiligter ums Leben gekommen. Aber Opfer gibt es trotzdem: Menschen, die über oder neben den Automaten-Standorten leben wie Holger Zwafing aus Schüttorf. Für einige ist die Sprengung ein traumatisches Erlebnis.

Die Ermittlungen

Im Visier der Behörden

Die Behörden in Niedersachsen wollen in Zukunft schlagkräftiger gegen Geldautomaten-Sprenger vorgehen. Denn nach Nordrhein-Westfalen war Niedersachsen im Jahr 2022 das Hauptziel der Attacken.

Deutsch-niederländische Polizei-Teams

Wird künftig in Niedersachsen ein Automat gesprengt, dann ermittelt die neue Zentralstelle bei der Staatsanwaltschaft Osnabrück. Zudem kontrollieren in der Grenzregion deutsch-niederländische Teams verdächtige Fahrzeuge.

Von der Polizei sichergestellte Werkzeuge und andere Ausstattung von Geldautomaten-Sprengern

Von der Polizei sichergestellte Ausstattung von Geldautomaten-Sprengern

Von der Polizei sichergestellte Ausstattung von Geldautomaten-Sprengern

Dennoch gibt es auch Kritik aus der Polizei selbst: "Wir haben die Anweisung, dass wir nicht auf die Täter schießen sollen, nicht auf das Fluchtfahrzeug schießen sollen, dass wir das Fluchtfahrzeug auch nicht rammen sollen", kritisiert ein niedersächsischer Streifenpolizist, der anonym bleiben will, im Interview mit dem NDR.

"Wenn man so will, können wir im Prinzip nichts machen, wenn wir auf die Täter treffen."
Streifenpolizist aus Niedersachsen

Durch die strikten Anweisungen sei die unmittelbare Fahndung fast unmöglich. Dies sei aber neben der nachträglichen Ermittlungsarbeit ebenfalls sehr wichtig,

Der niedersächsische Landespolizeipräsident Axel Brockmann kann die Kritik seines Beamten nicht nachvollziehen. Zum einen gebe es mittlerweile mehr Personal für den Einsatz bei Streifendiensten und Ermittlungen. Zum anderen seien Situationen, in denen ein Tatfahrzeug gerammt oder auch von der Schusswaffe gebraucht gemacht würde, nicht ausgeschlossen.

Unstrittig ist: In Niedersachsen konnten diesem Jahr bereits in mindestens zwei von neun Fällen Tatverdächtige festgenommen werden.

Die Gegenmaßnahmen

Haben die Diebe es zu leicht?

20 Euro-Geldschein, durch ein Geldautomaten-Sicherheitssystem mit violetter Tinte eingefärbt

Niedersachsens Justizministerin Kathrin Wahlmann (SPD) hat Anfang des Jahres die Banken und Sparkassen zum Einbau von Sicherheitssystemen aufgefordert. "Das lange Zuwarten, während Menschenleben gefährdet sind, ist für mich nicht mehr nachvollziehbar", sagte die Ministerin.

Auf die Kritik aus der Politik angesprochen, antworten Vertreter der deutschen Kreditwirtschaft dem NDR schriftlich:

"Es ist seit Jahren das Ziel der Deutschen Kreditwirtschaft und der durch sie vertretenen Banken und Sparkassen, durch geeignete präventive Maßnahmen Angriffen vorzubeugen und die Fallzahlen durch Sprengungen nachhaltig zu reduzieren."
Deutsche Kreditwirtschaft

"Beschädigte" Scheine würden erstattet, so die Vertreter der Deutschen Kreditwirtschaft. Auch die Schäden an den Gebäuden würden in der Regel von der Versicherung reguliert.

Ein finanzieller Anreiz, die Automaten zu sichern, besteht also offenbar nicht. Im Gegenteil: Für den Einbau der Sicherungssysteme müssen die Banken zahlen.  

Geldautomaten schützen mit Farbe oder Kleber

Die Volksbank Jever zum Beispiel hat dennoch schon vor sieben Jahren begonnen, ihre Geldautomaten besser zu schützen: Nachts kann dort kein Bargeld mehr gezogen werden, zudem werden alle Automaten vom Werksschutz videoüberwacht.

Sollte es dennoch einen Einbruch geben, dann wird der Geldautomaten-Raum komplett vernebelt. Und bei einem Angriff auf einen Automaten, werden alle Scheine durch Farbpatronen unbrauchbar gemacht.

Alternativ werden auch Sicherungssysteme verkauft, die die Scheine miteinander zu einem festen Klotz verkleben, wenn der Geldautomat beschädigt wird, oder solche, die Kleber und Farbe kombinieren.

Farbpatronen haben sich auch in den Niederlanden und in Frankreich bewährt. "Die Zahl der Überfälle auf Geldautomaten ist von 133 im Jahr 2013 auf 15 im Jahr 2022 gesunken", erklärt Suzanne van de Graaf von der niederländischen Polizei. "Wir glauben, dass der Hauptgrund dafür darin liegt, dass die niederländischen Banken Präventivmaßnahmen ergriffen haben, die die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Raubüberfalls erheblich verringert haben."

Weniger Geldautomaten, weniger Sprengungen?

Zahlung mit ec-Karte in einem Supermarkt,

In den Niederlanden hat die Polizei noch einen weiteren wichtigen Grund erkannt, warum die Zahl der Geldautomaten-Sprengungen zurück gegangen ist: Die Banken haben die Zahl der Geldautomaten verringert. In den Niederlanden wird überwiegend elektronisch bezahlt statt in bar.

Erkunden Sie die Vorfälle in Ihrer Region in der interaktiven Karte:

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Link zum Panorama-3-Film über Geldautomaten-Sprenger

Geldautomaten-Sprenger: So leicht kommen die Täter davon

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Team:

Recherche, Text, Grafiken: Claus Hesseling und Frauke Reyer

Recherche und Filmmaterial: Sebastian Heidelberger und Timo Robben , "Panorama 3", 14. Februar 2023

Redaktion: Anna Behrend

Videos:
Titel: Überwachungskamera, Privat
Schüttorf: NDR, Privat
Sonstige: NDR

Fotos:
LzO in Edewecht und Kartenzahlung: picture alliance
Audi: dpa-Bildfunk
Trainingsraum und sichergestellte Ausrüstung: PD Osnabrück
Eingefärbter 20 Euro-Schein: Europäische Zentralbank (EZB)

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