Die Entführung von
Jan Philipp Reemtsma
vor 25 Jahren

33 Tage in Gefangenschaft

Zum Zeitpunkt seiner Entführung, im März 1996, ist Jan Philipp Reemtsma 43 Jahre alt. Er ist verheiratet mit Ann Kathrin Scheerer (41). Die beiden haben einen Sohn, Johann Scheerer, der damals 13 Jahre alt ist.

Reemtsma ist Literatur- und Sozialwissenschaftler, Autor, Mäzen und Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung - und er ist Nachkomme der Reemtsma-Dynastie. Als er im Alter von 26 Jahren Anteile an dem Tabakkonzern erbt, veräußert er sie. Damit ist er Multimillionär und einer der reichsten Männer des Landes. Einen Personenschutz hat die Familie damals nicht.

Am Abend des 25. März 1996 verlässt Jan Philipp Reemtsma sein Wohnhaus in Hamburg-Blankenese. Er will sich einen entspannten Abend machen. Aus seinem Arbeitshaus, das nur 50 Meter weit entfernt auf demselben Grundstück liegt, will er ein paar Bücher holen.
Auf dem kurzen Weg dorthin hört er ein Rascheln im Gebüsch. Dort verstecken sich zwei Männer, sie überfallen ihn. Reemtsma versucht sich zu wehren, wie er später in einem Interview berichtet.

Die Täter fesseln ihn, verbinden ihm die Augen und verfrachten ihn in den Kofferraum eines Wagens. Ihr Ziel ist Garlstedt, ein kleines Dorf nördlich von Bremen. Dort haben die Männer Monate zuvor ein Haus angemietet. Das reetgedeckte Gebäude kann von der Straße aus nicht eingesehen werden.

Noch am Abend der Entführung findet Ann Kathrin Scheerer auf der Mauer des gemeinsamen Hauses einen Erpresserbrief – blutverschmiert und beschwert mit einer scharfen Handgranate. Die Entführer fordern darin 20 Millionen Mark Lösegeld.
Und sie drohen: Sollten die Polizei oder die Medien informiert werden, bringen sie die Geisel um.

Scheerer informiert die Polizei dennoch in derselben Nacht.
Mit rund 200 Beamtinnen und Beamten arbeitet die Polizei rund um die Uhr an dem Fall Reemtsma.

Schnell kursieren in den Medienhäusern erste Gerüchte über die Entführung. Hamburgs damaliger Polizeisprecher Werner Jantosch sagt später in einem Interview: "Prominente Persönlichkeit, spektakulärer Kriminalfall und eine sehr, sehr hohe Lösegeldforderung. Diese drei Elemente sind der Garant dafür, dass Medien eigentlich nicht schweigen können."

Dennoch appelliert die Polizei - um Reemtsma nicht zusätzlich in Gefahr zu bringen - an die Journalistinnen und Journalisten, von einer Berichterstattung abzusehen. Mit Erfolg, alle Medien bewahren Stillschweigen.

Eine Zeitung aber spielt eine besondere Rolle im Entführungsfall: In einem ihrer ersten Erpresserbriefe fordern die Entführer Ann Kathrin Scheerer auf, eine Kleinanzeige in der "Hamburger Morgenpost" zu schalten. Titel der Grußbotschaft: "Alles Gute Ann Kathrin", dazu eine Faxnummer zur Kontaktaufnahme.

In den folgenden Tagen und Wochen versucht die Polizei auf diesem Weg immer wieder, Kontakt zu den Entführern aufzunehmen. Sie bittet um ein Lebenszeichen der Geisel und signalisiert auch: Wir sind zur Lösegeldzahlung bereit.

Am 3. April - Tag 9 von Reemtsmas Gefangenschaft - soll es in der Nähe von Hamburg zur Lösegeldübergabe kommen. Reemtsmas Ehefrau und der Anwalt Johann Schwenn sollen das Geld überbringen. Die Übergabe scheitert, weil der Übergabeort an der Autobahnauffahrt nicht wie beschrieben existiert.

Am 13. April - Reemtsmas 19. Tag in Gefangenschaft - misslingt eine zweite Geldübergabe. Die Entführer lotsen Schwenn erst nach Luxemburg, dann nach Trier. Der Überbringer wirft den Geldsack wie gefordert über einen Zaun. Allerdings: Schwenn ist sehr spät dran, weil eine mitfahrende Polizistin ihren Pass vergessen hatte. Niemand holt das Geld ab, damit ist auch diese Übergabe gescheitert.

Währenddessen sitzt Jan Philipp Reemtsma weiterhin von der Außenwelt abgeschnitten in seinem winzigen Kellerraum.

Die Entführer gehen nun einen neuen Weg. In Absprache mit Jan Philipp Reemtsma kontaktieren sie den Hamburger Pastor Christian Arndt und den Kieler Soziologieprofessor Lars Clausen - Vertraute des Entführten. Sie sollen die Geldübergabe übernehmen, ganz ohne Polizei. Und die Entführer erhöhen ihre Lösegeldforderung: Sie verlangen nun 30 Millionen Mark - 10 Millionen mehr als zuvor.

Am Abend des 24. April brechen Arndt und Clausen auf - mit zwei Reisetaschen voller Geld. Bei Krefeld parken die beiden den Wagen an einem Feldweg. Kurz darauf melden sich die Entführer: Sie haben das Geld erhalten. Das höchste bislang gezahlte Lösegeld in Deutschland.

In der Nacht zum 27. April ist es endlich soweit: Jan Philipp Reemtsma wird im Wald freigelassen, körperlich - aber nur körperlich - unversehrt. Er irrt durch die Nacht, kommt zu einer Siedlung und klingelt an einem Haus. Der Bewohner lässt ihn telefonieren. Um kurz vor Mitternacht ruft Reemtsma seine Frau an und sagt: "Ich bin's. Ich bin frei."

Gemeinsam mit der Polizei holen seine Frau und sein Sohn Reemtsma ab. Die drei fliehen vor dem zu erwartenden Medienrummel nach New York.

Die Polizei gibt noch am selben Tag eine große Pressekonferenz. Dort spielen die Beamten Aufnahmen eines Telefonats mit den Tätern vor, die die Medien verbreiten sollen.

Mithilfe dieser Sprachaufnahmen kann die Polizei zwei Täter kurz nach Reemtsmas Freilassung fassen: Wolfgang Koszics und Peter R. werden zu zehneinhalb beziehungsweise fünf Jahren Gefängnis verurteilt.
Piotr L. stellt sich der Polizei und erhält sechs Jahre Haft.

Drahtzieher der Entführung ist Thomas Drach. Er kann erst nach jahrelanger Fahndung im März 1998 in Argentinien verhaftet werden. Im Juli 2000 wird er an Deutschland ausgeliefert. Im März 2001 wird Drach zu 14 Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Im Oktober 2013 kommt er auf freien Fuß.
Im Februar 2021 wird er in Amsterdam festgenommen. Er soll an drei Überfällen auf Geldtransporter beteiligt gewesen sein.

Von dem gezahlten Lösegeld in Höhe von 30 Millionen Mark konnten bis heute nur etwa 1,5 Millionen Mark sichergestellt werden.

Für die ganze Familie ist die Entführung mit der Freilassung noch lange nicht beendet.
"Auch wenn wir letztendlich (...) gut aus dieser Zeit hervorgegangen sind - hier hat das Böse gesiegt. Wir alle drei kennen diese Momente, wenn das alles wieder für eine Sekunde aufblitzt" - schreibt Reemtsmas Sohn Johann Scheerer 22 Jahre später in seinem Buch.

Jan Philipp Reemtsma selbst spricht nur sehr selten in den Medien über das Erlebte - in einem Interview mit dem NDR umschreibt er es bildlich.

NDR
Landesfunkhaus Hamburg

Text und Umsetzung:
Petra Markgraf
Kathrin Otto

Grafik und Filmbearbeitung:
Arman Ahmadi
Lisanne-Charis Drägert

Sprecherin:
Annette Matz

Fotos:
picture alliance


Die Aussagen von Jan Philipp Reemtsma entstammen NDR Interviews von 1997 und 2001.