Damascus Dossier

Anatomie eines Verbrechens

Dieser Mann hat ein Geheimnis. Er ist Zeuge eines der größten Menschenrechtsverbrechen der Gegenwart.

Er hat lange eine Festplatte versteckt, die zeigt, was das Assad-Regime bis zu dessen Sturz dem syrischen Volk angetan hat.

Und wie akribisch es diese Verbrechen dokumentiert hat.

Syrien ist das Land der Vermissten. Als Ende 2024 der Diktator Baschar Al-Assad flieht, begeben sich Syrer auf die Suche nach ihren Angehörigen.

Diese Frauen suchen auf einer Demonstration im August dieses Jahres ihre Männer und ihre Söhne.

Noch immer gelten mehr als 160.000 Menschen als verschwunden. (Quelle: SNHR London)

Doch viele Spuren wurden verwischt, Beweise vernichtet.

Als der Diktator stürzt, brennen im ganzen Land Gebäude, darunter Gerichte und Archive. Akten, Datenträger und Dokumentenordner aus 54 Jahren Assad-Regime gehen in Flammen auf.

Der Oberst

Da hält Oberst Muhammad (Name geändert) sein Geheimnis noch versteckt.

Jahrelang hat er eine Schlüsselposition im Assad-Apparat: Er ist Chef der Beweissicherungseinheit der syrischen Militärpolizei.

Seine Aufgabe ist es, die mörderischen Taten der eigenen Sicherheitskräfte zu fotografieren und akribisch zu archivieren.

Das Büro des Oberst - seit dem Umsturz ein Chaos.

Noch immer liegt hier sein Tresor. Darin hatte der Offizier an jedem Arbeitstag eine Festplatte weggeschlossen, jahrelang, so erzählt er es NDR-Reportern.

Damals, in der Nacht, in der das Regime untergeht, muss er sich entscheiden.

Der Offizier schmuggelt die Festplatte aus der Kaserne. Über Mittelsmänner gelangt sie schließlich zu Reportern des NDR, die sie mit dem International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) und internationalen Partnermedien teilen. In Deutschland sind WDR und "Süddeutsche Zeitung" an der Auswertung der Daten beteiligt. 

Auf der Festplatte befinden sich mehr als 70.000 Fotos von insgesamt 10.212 toten syrischen Häftlingen; aufgenommen zumeist zwischen 2015 und 2024.

Viele Leichen zeigen deutliche Spuren von Folter und Gewalt und sind bis auf die Knochen abgemagert.

Die Fotos

Die Mitarbeiter der Beweissicherungsabteilung haben die Bilder akkurat in Ordner gepackt. Es sind überwiegend die Leichen von Männern abgebildet, aber es gibt auch einzelne Fotos von Frauen und Minderjährigen. Selbst das tote Baby einer Gefangenen ist darunter.

Um das Ausmaß des Verbrechens besser erfassen zu können, erstellen die Reporter einen repräsentativen Auszug der Fotos.

Etwa zwei Drittel der Toten sind nackt oder nur spärlich bekleidet. Rund drei Viertel sind stark unterernährt. Mehr als die Hälfte der Leichen hat Anzeichen von Verletzungen im Gesicht, am Kopf oder Nacken. Viele haben Verbrennungen und Prellungen.

Bei der Auswertung fällt auf: Die Bildränder geben Hinweise darauf, wo die Fotos entstanden sind.

Immer wieder zeigen sie dieselbe marmorierte Bodenplatte, eine abgeplatzte Stufe, dieselbe Tür. Auf vielen Bildern, zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten. 

Die Fotos sind Belege für das massenhafte Töten.

Das Krankenhaus des Todes

Die Hölle hat in Syrien zu Zeiten des Regimes viele Namen - eine davon heißt "Harasta". Hier, unten im Keller des Militärkrankenhauses nördlich von Damaskus, entstehen die Fotos. Die Klinik dient als Sammelplatz von Leichen aus verschiedenen Gefängnissen und Kerkern Assads.

Oben in der siebten Etage, so berichten Augenzeugen, werden Gefangene bis zum Jahr 2015 misshandelt und gefoltert. Abgeschottet unter dem Dach haben die Geheimdienste das Sagen.

Welche Menschen können anderen Menschen so etwas antun?

Die Klinik steht heute weitgehend leer. Im Keller finden die Reporter jedoch Hinweise, darunter alte Dienstpläne mit Namen von Ärzten.

Ein Doktor taucht darauf immer wieder auf. Welche Verantwortung trägt er? Seinen Namen nennen wir hier nicht. Die Reporter finden den Mann in Deutschland - er ist eingebürgert und praktiziert inzwischen in einer Klinik.

Damals in Syrien habe er die Gefangenen behandelt wie jeden anderen Patienten auch, sagt er. Er bestätigt die Folter in Harasta, aber Ärzte hätten sich nicht daran beteiligt - nur die Sicherheitskräfte.

Zum "Damascus Dossier" gehören nicht nur 70.000 Fotos, sondern auch Tausende Seiten vertraulicher Dokumente syrischer Geheimdienste. Sie wurden dem NDR zugespielt.

Darunter sind viele Totenscheine, auch solche mit dem Namen des Arztes. Darauf steht immer die gleiche Todesursache für die Gefangenen vermerkt: Herzstillstand.

So wie auf dem Totenschein von Muhannad Khalifa.

Muhannad ist Mitte Zwanzig, als er von syrischen Sicherheitskräften festgenommen wird. Da plante er gerade seine Hochzeit. Er verschwindet spurlos. Mehr als zwölf Jahre weiß seine Familie nicht, was mit ihm geschehen ist.

Die Reporter finden seine Angehörigen im Osten von Syrien. Erst wollen sie nicht glauben, dass Muhannad tot ist. Aus einer Ahnung wird Gewissheit.

Unklar bleibt für die Familie, wie genau ihr Sohn gestorben ist. Denn Totenscheine der Ärzte dienten offenbar dazu, die Gräueltaten des Regimes zu verschleiern.

Wohin wurden Muhannad und all die Toten aus dem Harasta-Klinikum gebracht, nachdem sie dort dokumentiert wurden?

Ehemalige Mitarbeiter erzählen, dass die Leichen in LKW-Anhängern gelagert wurden. Angeblich auf einem Hubschrauber-Landeplatz direkt hinter dem Krankenhaus.

Satellitenbilder zeigen dort tatsächlich solche LKW-Anhänger, über Jahre hinweg.

Nachts, so erzählen es einige, wurden die Anhänger dann vom Krankenhausgelände gefahren.

An diesen Ort: Qutaifa, ein Massengrab, nicht weit weg vom Militärkrankenhaus.

Dieses Stück Land, die Fotos, die Toten werfen die Frage auf: Wie kann eines der großen Menschenrechtsverbrechen der Gegenwart jemals aufgearbeitet werden?

Die Aufarbeitung

In Berlin versucht der syrische Menschenrechtsanwalt Anwar Al-Buni, Familien Gewissheit über den Verbleib ihrer vermissten Angehörigen zu geben. Der Oppositionelle wurde selbst über Jahre in Syrien in Haft misshandelt.

Ihm und seiner NGO, dem Syrian Center for Legal Studies and Research, liegt der Fotodatensatz ebenfalls vor. Gemeinsam mit seinen Mitarbeitern versucht Al-Buni, Listen von Vermissten mit den Fotos abzugleichen. Für seine Arbeit könnte der Datensatz eine Schlüsselrolle spielen.

Mit seiner NGO vertritt Al-Buni Opfer des Regimes vor Gericht, sammelt Hinweise auf Täter, die mittlerweile auch in Deutschland untergetaucht sein könnten, und sagt als Zeuge vor Gerichten in ganz Europa aus.

Das syrische Regime, sagt er, sei immer grausamer vorgegangen.

Menschen aus diesem System zu finden, die Schuld einräumen, ist schwer.

Oberst Muhammad hat mit den Fotos wichtige Beweise gesichert und dafür gesorgt, dass die Welt sie sehen kann.

Aber er war auch jahrelang selbst Teil des Regime-Apparats. Freiwillig, bis zu dessen Untergang.

Natürlich wurde für das "Damascus Dossier" auch der frühere Oberbefehlshaber, Syriens Präsident Baschar al-Assad, der wohl heute in Russland lebt, angefragt.

Er hat nicht geantwortet.

Die ganze Doku sehen Sie hier:

Und zum Hören bei 11km:

Dieses Thema im Programm:
ARD Mediathek | Das Damascus Dossier | 04.12.2025 | 06:00 Uhr

Damascus Dossier

Anatomie eines Verbrechens

Autor:innen: Volkmar Kabisch, Amir Musawy, Sebastian Pittelkow, Benedikt Strunz, Sulaiman Tadmory, Hannes Stepputat
Mitarbeit: Annette Kammerer, Stella Peters
Grafik: Sebastian Kindel, Hannes Stepputat
Redaktion: Lena Gürtler, Antonius Kempmann
Leitung: Britta von der Heide
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