Bis zur Wahrheit
AM MITTWOCH, 20. NOVEMBER, 20.15 UHR IM ERSTEN
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Inhalt
Martina (Maria Furtwängler) ist eine erfolgreiche Neurochirurgin, glücklich verheiratet und Mutter einer pubertierenden Tochter. Ihr Leben ist nahezu perfekt, bis im gemeinsamen Familienurlaub mit dem befreundeten Paar Jutta (Margarita Broich) und Torsten (Uwe Preuss) und ihrem Sohn Mischa (Damian Hardung) etwas passiert, das Martina völlig aus der Bahn wirft: Nach einer ausgelassenen Strandparty wird Martina von Mischa, Juttas Sohn, vergewaltigt. Martina reist ab und kehrt zurück in ihr bislang so geordnetes Leben.
Doch nach dem Urlaub hat sie zunehmend Schwierigkeiten, das Geschehene zu verdrängen und ihr Leben so zu führen, als wäre nichts passiert. Auch ihr Umfeld beginnt, die Veränderungen in Martina wahrzunehmen. Sie offenbart das Geschehen ihrem Mann Andi (Pasquale Aleardi). Als der die Freunde mit der Tat ihres Sohnes konfrontiert, muss sich Martina nicht nur ihrem Trauma stellen, sondern auch mit den skeptischen und ablehnenden Reaktionen ihres Umfelds umgehen. Martina kämpft verzweifelt und schließlich mit allen Mitteln um ihre Selbstbestimmung und gegen die zerstörerischen Auswirkungen der Tat auf ihre Familie und Freundschaften …
Der Film hatte seine Off-Air-Premiere auf dem Filmfest München und war dort für den Bernd Burgemeister Fernsehpreis nominiert, er ist eingeladen auf dem Filmfest Oldenburg, auf den Nordischen Filmtagen und auf dem Cologne Film Festival.
Besetzung
Martina
Maria Furtwängler
Jutta
Margarita Broich
Mischa
Damian Hardung
Andi
Pasquale Aleardi
Torsten
Uwe Preuss
u. a.
Stab
Regie
Saralisa Volm
Drehbuch
Lena Fakler
Kamera
Roland Stuprich
Schnitt
Robert Stuprich
Kostümbild
Stephanie Riess
Maskenbild
Jennifer Porscheng, Edith Paskvalic
Casting
Antje Wetenkamp
Szenenbild
Wolfgang Baark
Ton
Matthias Wolff, Tobias Krause
Musik
Jonas Nay, David Grabowski
Herstellungsleitung
Marcus Kreuz
Produktionsleitung
Susanne Bähre, Frederik Keunecke (NDR)
Producerinnen
Lena Klein, Laura Aleman
Produzentinnen
Maria Furtwängler, Kerstin Ramcke
Redaktion
Sabine Holtgreve
Drehzeit
August/September 2023
Länge
89 Minuten
Drehorte
Seevetal, Schwedeneck, Hamburg und München
„Bis zur Wahrheit“ ist eine Produktion der Atalante Film und Nordfilm, gefördert mit Mitteln der nordmedia – Film- und Mediengesellschaft Niedersachsen/Bremen mbH im Auftrag des Norddeutschen Rundfunks für die ARD.
„Wir wollen den Zuschauenden neue Perspektiven auf Täter-Opfer-Realitäten geben“
Gespräch mit Maria Furtwängler (Hauptdarstellerin und Ko-Produzentin)
Martina ist unabhängig, erfolgreich in ihrem Job und freut sich auf eine Auszeit mit ihrer Familie. Zusammen mit ihrem Ehemann Andi, ihrer Tochter Lina und einer befreundeten Familie reist sie in ihr Ferienhaus an der Ostsee. Doch die Begegnung mit Mischa, dem Sohn ihrer besten Freundin Jutta, wird Martina in beruflicher und persönlicher Hinsicht tiefgreifend prägen. Das Geschehene auf eigene Faust zu verarbeiten gelingt ihr nicht, ihr Umfeld bemerkt die drastischen Veränderungen in ihrer Persönlichkeit. Martina sieht sich plötzlich mit Fragen konfrontiert, die weit über ihren strukturierten Klinikalltag hinausgehen und sie dazu zwingen, ihre ganze Lebensperspektive neu zu überdenken.
Wie haben Sie sich - auch emotional - auf die Rolle der Martina vorbereitet?
Martina erlebt einen wirklich brutalen Kontrollverlust. Einmal durch die Vergewaltigung selbst und das zweite Mal, als das Geschehene öffentlich wird und sie von ihrem Umfeld bewertet und hinterfragt wird. Da wird ihr auch noch die Deutungshoheit über ihr eigenes Erleben entrissen …
Wie es ist, sukzessive den Boden unter den Füßen zu verlieren, daran habe ich in meiner Vorbereitung intensiv gearbeitet: Was passiert da im Körper, wie verhält, wie bewegt sich jemand, dem so etwas passiert? Und klar macht einen eine solche Rolle auch persönlich fertig, es dauert, das aus den Kleidern zu bekommen. Man kann das wissen, aber nicht verhindern.
Was erschwert den Menschen um Martina herum, die Vergewaltigung auch als solche anzuerkennen? Martina wird anfangs weder Glauben von ihrem Mann noch von ihren engen Freunden geschenkt.
Für Frauen, die sexualisierte Gewalt erleben, ist es leider viel zu oft schwer, Gehör und Glauben zu finden. Gerade weil diese Übergriffe statistisch gesehen meistens im nächsten Umfeld passieren, fällt es uns oft leichter, an ein Missverständnis oder eine Mitschuld des Opfers zu glauben, als einzusehen, dass ein Mann, den wir kennen, der nicht der anonyme, maskierte Angreifer im dunklen Park ist, sondern unser Freund, Vater, Bruder oder eben Sohn, zu so einer Tat fähig ist.
Um das zu erzählen, haben wir in „Bis zur Wahrheit" diese Bilder radikal vermieden.
Martina ist eine gestandene Frau. Sie ist professionell erfolgreich, sie ist selbstsicher, sie ist über 50. Wir wollten in diesem Film das Machtverhältnis ganz bewusst umkehren, um Martinas Umfeld im Film, aber auch die Zuschauenden mit diesen Fragen zu konfrontieren. Wie kann sie sich in diese Situation begeben? Warum sieht sie es nicht kommen? Hat sie es nicht einfach auch gewollt? Warum sollte ein junger Mann eine so viel ältere Frau vergewaltigen? Warum bringt sich eine so kluge, erfahrene Frau in so eine Situation? Wir wollen den Zuschauenden neue Perspektiven auf Täter-Opfer-Realitäten geben.
Wie hat Ihnen der Einsatz einer Intimacy Koordinatorin geholfen? Würden Sie den Einsatz generell für Filmproduktionen empfehlen?
Mir hat das sehr geholfen. Und ich würde Filmproduktionen immer empfehlen, bei sensiblen Szenen mit einer Intimacy Koordinatorin zu arbeiten und sich frühzeitig eine Einschätzung einzuholen, ob und für welche Szenen eine Zusammenarbeit sinnvoll wäre.
Unsere Intimacy Koordinatorin Anne Schäfer hat vor Beginn der Dreharbeiten die Zustimmung aller Beteiligten eingeholt und klare Grenzen für jeden von uns erarbeitet. Das trägt immens dazu bei, dass man sich jederzeit sicher und respektiert fühlt. Dadurch, dass wir vor Drehbeginn die Aktion schon durch-„choreografiert“ wie einen Tanz oder einen Stunt hatten, wussten wir ganz genau, was auf uns zukommt und konnten uns gut auf die Situation einlassen.
Warum war Martina anfangs so empfänglich für Mischas Avancen?
Sie merkt, dass Mischa keinen einfachen Stand hat. Gerade bei seinem Vater. Sie hat Verständnis für seine Situation und es besteht zwischen den beiden eine Grundsympathie.
Für mich ist das eine klare Sache: Mischa ist ein junger, attraktiver Mann, die beiden sind sich sehr sympathisch. Seine Aufmerksamkeit schmeichelt ihr, seine Leichtigkeit tut ihr gut. Das, gepaart mit Urlaubsgefühl und etwas unverbindlichem Flirten, und die Anziehung ist gesetzt.
Sie haben 2016 gemeinsam mit Ihrer Tochter Elisabeth Furtwängler die MaLisa-Stiftung gegründet, um Geschlechterdiversität im Film zu fördern und Gewalt gegen Mädchen und Frauen zu bekämpfen. Was hat den Film „Bis zur Wahrheit“ in Bezug auf die Ziele der Stiftung für Sie persönlich so wichtig gemacht?
Ich bin überzeugt, dass Medien unsere Wahrnehmung der Realität prägen und damit eine besondere Verantwortung haben. Das gilt umso mehr für ein auf allen Ebenen verstörendes Thema wie geschlechtsspezifische Gewalt. Ob im Netz, auf der Straße oder im eigenen zuhause: Jede dritte Frau in Deutschland erlebt körperliche und/oder sexualisierte Gewalt. Eine Studie der MaLisa Stiftung zeigt, dass in einem Drittel aller TV-Formate explizite geschlechtsspezifische Gewalt, häufig schwere Gewalt gegen Frauen, dargestellt wird. Ganz selten wird dabei die Perspektive des Opfers berücksichtigt. Wie können wir Gewalt erzählen, frei von Stereotypen, Klischees oder einem voyeuristischen Blick? Kann sie erzählt werden, ohne sie direkt zu zeigen? Wie kann die Perspektive der Opfer / Betroffenen dargestellt werden? Wie können die Strukturen von Gewalt gegen Frauen deutlich gemacht werden? Der Film „Bis zur Wahrheit“ stellt sich diesen Fragen auf eine kluge und wirklich mutige Weise. Und mit Saralisa Volm konnte ich mich auf eine Regisseurin verlassen, die sich Klischees vollkommen verschließt. Das macht mich persönlich sehr froh, denn wir brauchen dringend Filme, die dieses Thema neu erzählen.
„Sexuelle Gewalt ist das Produkt des Scheiterns und seiner Fehlwahrnehmung, nicht das Ziel selbst“
Gespräch mit Damian Hardung
Mischa ist eher zurückhaltend und hat sich äußerlich stark verändert. Trotz seiner intensiven Trainingspläne wirkt er desorientiert und perspektivlos – ganz im Gegensatz zu den hohen Erwartungen seines Vaters. Mischa fühlt sich von seiner Umgebung missverstanden, bis er beginnt, sich im Urlaub näher mit Martina, der besten Freundin seiner Mutter, anzufreunden. Was anfänglich harmlos erscheint, nimmt eine dramatische Wende. Mischa versucht, sich vor den Konsequenzen seiner Tat zu drücken, doch die Ereignisse nehmen ihren eigenen, unvermeidlichen Verlauf.
Wie haben Sie sich emotional auf die Vergewaltigungsszene vorbereitet und wie konnte die Intimitätskoordinatorin dabei unterstützen?
Ich habe mich auf die Poolszene genauso vorbereitet wie auf jede andere Szene auch, sprich mit der Suche nach einem Szenenziel. In seiner verdrehten Realität hilft er Martina dabei, ihre äußeren Zwänge abzulegen und zu dem zu stehen, was sie innerlich auch vermeintlich möchte. Er muss glauben, dass Martina nur wegen ihrer scheiternden Ehe und weil Mischa der Sohn ihrer besten Freundin ist nicht mit ihm schlafen möchte, dass er sie davon befreien kann. Er bereitet sich schließlich nicht auf eine Vergewaltigung vor, die er zu diesem Zeitpunkt auch selber so nicht benennen würde, daher durfte ich das emotional auch nicht tun. Die sexuelle Gewalt ist das Produkt des Scheiterns und seiner Fehlwahrnehmung, nicht das Ziel selbst. Die perfide Aufgabe war, diesen Glaubenssatz des Helfen-Wollens im Angesicht des Widerspruchs der körperlichen Gewalt nicht zu verlieren. Die Intimitätskoordination hat, im Kontrast zu meiner inneren Vorbereitung, die äußeren Rahmenbedingungen gesteckt, damit man sich innerhalb dieser Grenzen frei bewegen kann.
Mischa scheint perspektivlos, fühlt sich von seinen Eltern nicht verstanden und lernt Martina im Urlaub an der Ostsee dann besser kennen. Wie empfindest Du die anfängliche Beziehung zwischen Martina und Mischa?
Martina ist die Einzige aus der Erwachsenenwelt, die Mischa als vollwertigen Menschen anerkennt und nicht bloß als Heranwachsenden abstempelt. Das schafft eine symmetrische Gesprächsebene, auf der beide sich ehrlich begegnen können.
Inwiefern verkörpert Mischa toxische Männlichkeit und wie beeinflusst sein Verhalten nach dem Vorwurf sein Umfeld?
Toxische Männlichkeit fängt per Definition bereits viel früher an, bei Verhalten, welches dem Umfeld gegenüber „giftig“ bzw. ungesund ist, aber oft noch unbewusst stattfindet, wie zum Beispiel bei Mansplaining. Das kann sicherlich als kulturelle Prägung ein Ausgangspunkt für Mischa sein, der es ihm erlaubt, seine Wahrnehmung als realer und wichtiger zu erachten als die von seinem Gegenüber. Aber Mischas Verhalten geht viel weiter als toxische Männlichkeit, er macht sich nach §177 der Vergewaltigung mit Anwendung körperlicher Gewalt dem Opfer gegenüber schuldig. Bei allem psychologischen Schauspielgeschwafel ist es wichtig, dass in aller Klarheit zu benennen.
„Ich wollte die Tat so darstellen, wie sie sich aus Sicht vieler Opfer abspielt“
Gespräch mit Saralisa Volm (Regisseurin)
Was war Ihnen in der Inszenierung des Films besonders wichtig?
Mir ist es immer wichtig, komplexe und glaubwürdige Figuren zu entwickeln, die Identifikationspotential liefern und beim Betrachten etwas in uns auslösen. Gerade bei diesem Film war es mir wichtig, dass wir präzise arbeiten und jeder Rolle Zeit geben, sich zu offenbaren. Außerdem war es mir ein Anliegen, hier einen Fall sexualisierter Gewalt so darzustellen, wie ihn Opfer häufig erleben, wir ihn aber selten im Film zu sehen bekommen. Statt eine laute, übertriebene und visuell gelernte Gewalttat zu zeigen, um Eindeutigkeit um jeden Preis herzustellen, wollte ich die Tat so darstellen, wie sie sich aus Sicht vieler Opfer abspielt.
Wie haben Sie mit den Schauspieler*innen zusammengearbeitet und ihr Vertrauen aufgebaut? Hat Ihre eigene Erfahrung als Schauspielerin dabei eine Rolle gespielt?
Im Idealfall haben wir in der Vorbereitung viel Zeit, uns mit den Rollen zu befassen. Dann teile ich mit den Schauspielenden gerne Filme, Literatur oder Bilder und Fotografien, um eine gemeinsame Vorstellung zu entwickeln. Außerdem muss man viel reden und auch mal etwas unternehmen, was im Zusammenhang mit dem Film steht. Darüber entwickelt sich dann automatisch eine Verbundenheit und ein Vertrauen. Außerdem sind Probentage wichtig, damit die Projektbeteiligten sich kennenlernen. Das steigert signifikant die Qualität von Filmen. Als Schauspielerin hatte ich diesen Prozess leider nur selten, aber wenn es ihn gab, war ich mehr als dankbar dafür. Vielleicht ist es mir deshalb heute so wichtig. Auch als Regisseurin merke ich, wie schwer es ist, eine ausreichende Vorbereitungszeit einzufordern oder gar zu etablieren. Ich hoffe jedoch, dass wir aus den Erfahrungen lernen und der Vorbereitungszeit wieder einen höheren Stellenwert beimessen. Sie sind für alle Gewerke Gold wert.
Sie haben sich auch für eine sehr körperliche Inszenierung entschieden, auch Martinas Sinnlichkeit wird viel Raum gegeben. Warum war das wichtig?
Es ist mir immer eine Freude, wenn es gelingt, Teile einer Geschichte nicht nur in Dialogen zu vermitteln, sondern die Figuren in ihrem Tun erlebbar zu machen. In unserer Körperhaltung und unseren Bewegungsabläufen zeigt sich oft mehr als im bloßen Text. Im Fall von Martina ging es weniger um Sinnlichkeit als darum, ihr gesundes Verhältnis zu ihrem Körper und ihrer Sexualität zu zeigen. Martina treibt Sport. Martina masturbiert. Martina hatte schon mal eine Affäre. Wäre sie ein Mann, wäre es vollkommen normal, das zu zeigen. Bei Frauen tun sich viele noch schwer damit, deren Unabhängigkeit und Körperlichkeit zu akzeptieren.
Wie bereiten Sie sich und die Schauspieler*innen auf solche intimen Szenen vor, und wie war es als Regisseurin, solche Szenen zu drehen?
Dieser Film beinhaltet die Darstellung von Intimität, von Sexualität und von Gewalt. Während ich für Szenen, die eine starke Verbundenheit von Menschen zeigen, gerne die Schauspielenden mit ihren eigenen Erfahrungen mitnehme und die psychologische Arbeit im Vordergrund steht, sind es bei Gewaltszenen ergänzend auch technische Anforderungen, die uns helfen, möglichst realistische Darstellungen zu erreichen. Dafür arbeiten wir mit Stuntkoordinator*innen. Bei Sexszenen oder Szenen, die sexualisierte Gewalt beinhalten, heißen diese Intimitätskoordinator*innen. Sie finden mit uns gemeinsam gute Positionen, mögliche Griffe und gute Winkel. Für mich gibt es bei Szenen ansonsten keine Pauschalisierung. Es ist nicht leichter oder schwerer oder schöner oder anstrengender, eine Sexszene oder einen Gewaltakt zu drehen. Vielmehr geht es darum, ob es uns gelingt, etwas Glaubwürdiges, Berührendes herzustellen. Schaffen wir das, dann verlasse auch ich das Set sehr emotional und es war ein guter Drehtag.
Auf dem Filmfest München haben Sie sinngemäß gesagt, wenn Menschen von Szenen des Filmes getriggert werden, haben Sie was richtig gemacht. Was meinen Sie damit?
Ich bin der Meinung, dass es ein Wert von Kunst ist, wenn sie berührt, wenn sie uns aufwühlt und zum Nachdenken bringt. Es ist bewegend, wenn wir uns mit Menschen im Film verbunden fühlen, weil wir ihr Handeln und ihre Gedanken nachspüren können. Ich suche solche Momente, die triggern, sowohl als Zuschauerin als auch als Regisseurin. Wichtig ist, dass sie gut moderiert sind und entsprechend eingebettet, so dass wir alle einen Gewinn daraus ziehen können.
Wenn es um sexualiserte Gewalt geht: Wie stehen sich die Filmemacherin und die Feministin Saralisa hier gegenüber?
Die Filmemacherin und die Feministin Saralisa sind eine Person. Sie teilen sich Perspektiven, Haltungen und Überzeugungen. Dazu gehören prinzipielle Überlegungen zu den Themen Gerechtigkeit, Klassismus, Gesellschaft und Gleichberechtigung. Das spiegelt sich hoffentlich sowohl in meiner Art zu arbeiten, denken, publizieren als auch in meiner Art zu leben. Diese Grundlagen spielen auch eine Rolle, wenn es um das Thema „sexualisierte Gewalt“ geht, ob im Film oder im Leben. Sie geben ein bestimmtes Framing und einen Blickwinkel vor, den es immer wieder mit neuen Eindrücken und Erkenntnissen abzugleichen gilt.
„Mischa, der Täter, ist Produkt dieser Gesellschaft, in der junge Männer beigebracht bekommen, dass ein Nein eigentlich ein Ja ist“
Gespräch mit Lena Fakler (Autorin)
Was ist für Sie das zentrale Thema des Films „Bis zur Wahrheit“?
Es geht im Film um eine Frau, die sexualisierte Gewalt in ihrem unmittelbaren sozialen Raum erlebt und sich infolgedessen mit einer Gesellschaft konfrontiert sieht, die eher bereit ist zu glauben, dass die Frau lügt, als dass der Mann, vielleicht sogar ein Mann, den sie lieben, ein Täter ist. Die Hauptfigur Martina droht, an den Zuschreibungen und der Verurteilung, die in unserer Gesellschaft dem Opfer (und nicht dem Täter) zuteilwerden, zu zerbrechen. Bis sie beschließt, sich selbst die Deutungshoheit zurückzuholen und sich selbst ermächtigt über das Narrativ dessen, was ihr angetan wurde: vom Täter - und den Menschen um ihn und sie herum.
Wie entsteht bei Ihnen der weibliche Blick im Film?
Ich würde meinen Blick nicht als weiblich beschreiben. Ich mache Filme und versuche bei allem, was ich tue, kritisch im Umgang mit patriarchalen oder anderweitig unterdrückenden Strukturen zu sein. Weil diese Unterdrückung in ihrer mannigfachen Ausprägung meist unsichtbar abläuft und von Teilen der Gesellschaft (besonders von denen, die von der Unterdrückung profitieren) nicht gesehen oder aktiv geleugnet wird, nutze ich Film, um eben diese Ungleichheit und aktiv geförderte Unterdrückung sichtbar zu machen. Nicht nur im Bereich Gender (wo die strenge Binarität zwischen weiblich und männlich Teil des Problems ist), sondern auch im Bereich Race, Age, Body, Class — and so on.
Wie wichtig war Ihnen die ambivalente Figurenzeichnung für die Wirkung des Films?
Täter-Opfer-Umkehr und die Verurteilung der betroffenen weiblich gelesenen Person anstelle des männlich sozialisierten Täters geschieht in unserer patriarchalen Gesellschaft ganz automatisch:
Der Rock war zu kurz. Sie hat zu viel getrunken. Warum war sie so spät überhaupt noch draußen.
Dabei wird außer Acht gelassen, dass als weiblich Gelesene zu Opfern patriarchaler Gewalt werden - ganz egal, wie sie sich verhalten. Das Problem sind nicht die betroffenen weiblich gelesenen Personen und ihr Verhalten. Das Problem sind die männlich sozialisierten Täter - und die Rückendeckung, die sie gesellschaftlich erhalten. Darum war mir wichtig, es dem Publikum so einfach wie möglich zu machen, Narrativen der Rape Culture zu verfallen: Martina ist dem Täter überlegen, was Alter, Lebenserfahrung, Souveränität und Status angeht. Sie hat getrunken und gefeiert. Sie hat geflirtet und gekifft. Sie lebt eine selbstbestimmte Sexualität. Und trotzdem ist das, was Mischa tut, falsch. Gleichzeitig ist Mischa kein Monster, das nichts mit uns zu tun hat. Mischa, der Täter, ist Produkt dieser Gesellschaft, in der junge Männer beigebracht bekommen, dass ein Nein einer weiblich gelesenen Person eigentlich ein Ja ist. Und dass man Zuneigung als Junge auch durch Gewalt kundtun kann - denn was sich liebt, das neckt sich.
Wie kam es dazu, dass sich „Bis zur Wahrheit“ stärker zu einem Familiendrama als zu einem Justizdrama entwickelt hat? War das von Anfang an so geplant oder hat sich diese Genrerichtung erst im Laufe des Prozesses ergeben?
Mir war von Anfang an bewusst, bei der Arbeit an diesem Film, dass sich Opfer sexualisierter Gewalt in Deutschland weder auf die Justiz noch auf die Polizei verlassen können. Im Gegenteil: Eine uns betreuende Person vom Frauennotruf hat sehr deutlich ausgesprochen, dass sie den allermeisten Opfern, die zu ihr kommen, davon abrät, die Straftat zur Anzeige zu bringen - weil sie von Polizei und Justiz in den meisten Fällen nicht mehr als eine Retraumatisierung und eine Fortführung der patriarchalen Gewalt zu erwarten haben. Die heteronormative Kleinfamilie dagegen ist die kleinste Keimzelle, die das Patriarchat stabilisiert und aufrechterhält. Es gilt noch immer das ungeschriebene Gesetz, dass partnerschaftliche Gewalt „Privatsache“ sei. Dieser soziale Nahbereich ist für jede weiblich gelesene Person der gefährlichste Ort — und nicht der dunkle Park in der Nacht. Gleichzeitig sind es unsere sozialen und familiären Beziehungen, in denen wir häufig am verwundbarsten, aber auch am emotionalsten, authentischsten sein können. Wir wollten eine emotional mitreißende Geschichte von politisch-gesellschaftlicher Relevanz erzählen. Dazu lag das Setting der Familie, aber auch der Freundschaft, von Anfang an nahe.
„Wir machen IC - Intimicy Coordination - so, wie wir uns das für uns selbst wünschen“
Gespräch mit den Intimitätskoordinatorinnen Anne Schäfer und Anna König (https://www.ic-you.net/)
Was macht Ihre Arbeit als Intimitätskoordinatorinnen aus?
Als Intimitätskoordinatorinnen unterstützen wir Filmproduktionen bei der Umsetzung von Szenen, die Intimität, Nacktheit oder simulierte sexuelle Gewalt beinhalten. Dabei wird nach den Standards von Theatrical Intimacy Education USA und dem Culture Change Hub gearbeitet. Als Netzwerk aus selbstständigen Intimitätskoordinator*innen gewährleisten wir eine kontinuierliche Betreuung während des gesamten Produktionsprozesses, wodurch professionelle Arbeitsbedingungen, die Sicherheit der Schauspielenden und eine reibungslose Umsetzung der Dreharbeiten sichergestellt werden.
Wie gestaltet sich die Arbeit am Set?
Anne Schäfer: Meine Arbeit beginnt lange, bevor ich an das Set komme. Um innerhalb der Grenzen der Darstellenden am Drehtag eine intime Szene drehen zu können, müssen im Vorfeld viele Gespräche geführt werden - die Regievision erfragt, Grenzen der Darstellenden an Gewerke kommuniziert, Modestygarments / Intimabdeckungen werden besprochen. Im besten Fall wird im Vorfeld geprobt und eine Choreografie erarbeitet. Gerade bei Szenen mit simulierter sexualisierter Gewalt ist das wichtig. Der Schlüssel ist Kommunikation. Am Drehtag sorge ich dafür, dass alles wie vorbesprochen stattfindet. Außerdem dokumentiere ich den gesamten Arbeitsprozess. Für „Bis zur Wahrheit“ haben wir im Team gearbeitet, um die Produktion optimal zu betreuen.
Welche Unterschiede bemerken Sie in der Qualität der Szenen, wenn ein*e Intimitätskoordinator*in am Set involviert ist?
Wir denken, Intimitäts-Koordination hilft der Regie und den Darstellenden auf mehreren Ebenen. Zum einen verbessert sich die Arbeitssicherheit und zum anderen haben Darstellende die Möglichkeit, sich mit dem genauen Wissen um die Grenzen der Spielpartner*innen mehr auf die Figuren zu konzentrieren. Ziel ist es, private Sexualität und die der Rolle zu trennen. Die Regie hat die Möglichkeit, ihre Regievision im Gespräch mit der IC zu konkretisieren, auf Stereotype oder Malegazing zu überprüfen. Mit Saralisa Volm hatten wir eine fantastische Zusammenarbeit.
Welches Feedback erhalten Sie in der Regel von den Schauspieler*innen und dem Team, wenn Sie als Intimitätskoordinatorinnen am Set waren?
Wir haben sehr gute Erfahrungen mit Darstellenden gemacht. Das liegt daran, dass wir selbst viel als Schauspielerinnen arbeiten, viele solche Szenen gedreht haben, seit 20 Jahren am Set sind, in beiden Funktionen, und so die Dynamiken verstehen, sehen, was Regie und Schauspielende brauchen, und gute Geschichten erzählen wollen. Wir machen IC so, wie wir uns das für uns selbst wünschen.
„Die Geschichte ist nicht schwarz und weiß, sondern traut sich in Grauzonen“
Statement von Kerstin Ramcke (Ko-Produzentin - Nordfilm -, gemeinsam mit Maria Furtwängler - Atalante Film)
Als Maria Furtwängler im November 2022 anrief und mich fragte, ob ich als Co-Produzentin in das Fernsehspielprojekt „Bis zur Wahrheit“ einsteigen wollte, hat sie mich sofort von der Qualität und der Wichtigkeit dieses Projektes überzeugt. Das kreative Team von Atalante in Kombination mit Lena Fakler, Saralisa Volm und Sabine Holtgreve hat die Erwartungen an eine intensive Arbeit und einen mutigen Film voll eingelöst.
Die Geschichte ist nicht schwarz und weiß, sondern traut sich in Grauzonen. Die Zuschauer werden „gezwungen“, sich ein eigenes Bild zu machen, ihr eigenes Urteil zu fällen, weil eben keine einfache Lösung vorgegeben wird. Das finde ich reizvoll und wichtig bei dem Thema eines sexuellen Übergriffs, das doch immer auch politisch diskutiert wird; bzw. werden muss. „Nein heißt Nein“ kann gar nicht oft genug postuliert werden. Dieser Film ist ein Beitrag dazu und er wird im besten Fall Diskussionen und Auseinandersetzungen anstoßen, die über den Fernsehabend hinausreichen.
„Wie es den betroffenen Frauen geht, wie sehr ihre Seelen und Körper durch sexualisierte Gewalt verletzt werden, wird viel zu selten erzählt“
Statement von Christina Clemm (Rechtsanwältin)
Die Straf-und Familienrechtlerin lebt in Berlin und verteidigt u. a. Opfer sexualisierter Gewalt. Sie veröffentlichte 2023 das Buch „Über Frauenhass“.
Was mich immer wieder erstaunt: Wieviel leichter es den Menschen zu fallen scheint, Frauen, die von sexualisierter Gewalt berichten, zu misstrauen, ihnen Interesse an Falschbeschuldigungen zu unterstellen, absichtsvolles Lügen, als ihnen zu glauben. Es wird behauptet, einem Mann könne wenig Schlimmeres widerfahren, als falsch eines Sexualdeliktes beschuldigt zu werden. Das ist auch schlimm, aber selten. Um dies zu verhindern, ein Sexualdelikt, wird den Beschuldigten häufig spontan Unterstützung zuteil, wird lieber geleugnet, als wahrhaben zu wollen, dass womöglich im eigenen Freundeskreis, in der eigenen Familie Täter sind. Wie es den betroffenen Frauen geht, wie häufig deren Karrieren zerstört sind, ihre Lebensentwürfe, Freiheiten, Beziehungen, wie sehr ihre Seelen und Körper durch sexualisierte Gewalt verletzt werden, wird viel zu selten erzählt. Auch wie es die Betroffenen erneut traumatisiert, wenn ihnen nicht geglaubt wird, sie Verleumdungskampagnen erleben müssen und sie von staatlicher Seite aus keine Gerechtigkeit erlangen. Warum so wenig Betroffene Anzeigen erstatten? Weil sie mit zu vielen Hindernissen konfrontiert werden, weil ihnen oft nicht geglaubt wird, sie allein gelassen werden, sie einen langen Atem und letztlich Glück haben müssen, bis ein Täter verurteilt wird. Das muss sich ändern. Was Betroffene brauchen? Dass Täter Verantwortung übernehmen, das ihnen widerfahrene Unrecht anerkannt und ihnen geglaubt wird.
Impressum
Herausgegeben von Presse und Kommunikation / Unternehmenskommunikation
Redaktion:
Iris Bents, NDR/Presse und Kommunikation
Mitarbeit:
Nicola Sorgenfrey, NDR
Texte:
Barbarella Entertainment
Gestaltung:
Janis Röhlig, NDR/Presse und Kommunikation
Bildnachweis:
NDR/Boris Laewen
NDR/Linda Rosa Saal (Saralisa Volm)
NDR/Malte Thomsen (Lena Fakler)
NDR/Jeanne Degraa/Linda Rosa Saal (Anne Schäfer und Anna König)
NDR/Thorsten Jander (Kerstin Ramcke)
NDR/privat (Christina Clemm)
Fotos:
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Presseservice:
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