Kurz nach der Befreiung des KZ Bergen-Belsen machen sich vier Häftlinge auf die Suche nach einem ihrer Peiniger:
Obersturmbannführer Adolf Haas.
Mit einem Plakat fahren sie durch dessen Heimatort - doch die Suche bleibt erfolglos.

Wer war dieser Mann?

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Vom Bäcker zum SS-Mann

Im Mai 1943 übernimmt Haas die Leitung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen bei Celle, obwohl seine Vorgesetzten oft keine allzu hohe Meinung von ihm haben. Durchschnitt. Ein Jedermann. Seine Laufbahn: Ein anschauliches Beispiel für eine NS-Karriere.

Haas ist zu diesem Zeitpunkt knapp 50 Jahre alt. Er wächst in Hachenburg im Westerwald auf, seine Eltern führen eine Gastwirtschaft. Bürgerliche Verhältnisse. Haas lernt Konditor. Später, im Ersten Weltkrieg, dient er bei der Marine. Im chinesischen Tsingtau (heute: Qingdao) gerät er in japanische Kriegsgefangenschaft. Erst nach sechs Jahren kehrt er nach Hause zurück.


Zwar arbeitet er einige Jahre als Bäcker, doch der entscheidende Tag in Haas' Leben ist der 1. Dezember 1931: Im Alter von 38 Jahren tritt er in die NSDAP ein, vier Monate später zieht er zum ersten Mal die schwarze Uniform der SS an. Schon nach vier Jahren trägt er Kragenspiegel und Schulterstücke eines Sturmbannführers - vergleichbar mit dem Rang eines Majors.

"Anfangs motivierten ihn wohl vor allem Kameradschaft, Handlungsattraktivität und Geld", schreibt der Historiker Jakob Saß in seiner Haas-Biografie. Und weiter: "Die SS bot ihm in einer wirtschaftlichen Krisenzeit wieder das Gefühl, zu einer Gemeinschaft dazuzugehören - und noch viel wichtiger: zu etwas Großem (...)". Seine Bäckerei gibt Haas 1935 auf.


Die Karriere unterm Hakenkreuz nimmt Fahrt auf. Haas absolviert die berüchtigte "Dachauer Schule", in der die Mitglieder der Waffen-SS mit Drill und Schikane auf ihren mörderischen Einsatz in den Lagern vorbereitet werden. Im Oktober 1941 ist Haas am Ziel: Er wird Kommandant im KZ Niederhagen - trotz zuvor oft mittelmäßiger Berurteilungen. Dort, bei Paderborn, sollen Häftlinge die Wewelsburg nach Himmlers Plänen zu einer gigantischen Ordensburg, einer Art Kultstätte der SS, ausbauen. Unter Haas' Leitung sterben in Niederhagen knapp 1.300 Menschen unter den brutalen Bedingungen.

Auftritt in Mantel und Handschuhen

Im Mai 1943 folgt der Wechsel nach Bergen-Belsen. Auch hier herrscht Haas brutal. Ein ehemaliger Häftling, der Luxemburger Pierre Petit, erinnert sich später.

"Nur manchmal brauste er mit seinem schweren Motorrad durch das Lager und rannte alles über den Haufen, was nicht schnell genug zu Seite sprang. Bei diesen Gelegenheiten trug er stets einen langen, grauen Ledermantel und Stulphandschuhe. Wenn er so in eine Häftlingsgruppe hineinfuhr, schlug er wild um sich, behielt aber die Handschuhe an, um sich die Finger nicht an 'solchem Aas' zu beschmutzen."
Pierre Petit

Der Bilder-Skandal

Bei der herrschenden "Weltanschauung" der Nazis ist Haas allerdings nicht immer auf Linie. Er beschwört einen handfesten Skandal herauf, als er mehrere Porträts von sich anfertigen lässt. Der Maler: ein Jude namens Leon Schönker, der in Bergen-Belsen inhaftiert ist.

Ein Selbstporträt von Leon Schönker. Er malte Adolf Haas - diese Werke verursachten einen Eklat.

Ein Selbstporträt von Leon Schönker. Er malte Adolf Haas - diese Werke verursachten einen Eklat.

Haas' Vorgesetzter schäumt, als die Geschichte auffliegt. "Diese Tatsache, die von Ihnen nicht bestritten wurde, ist eines SS-Führers so unwürdig, daß es einem fast die Sprache verschlägt. Entweder haben Sie noch nie eine weltanschauliche Schulung genossen oder aber Sie haben von dieser nur sehr wenig mitbekommen", schreibt er Haas im März 1944.

"Überzeugter Karrieremacher"

Laut Saß wird Haas von Zeitzeugen zwar als "fanatischer" und "überzeugter" Nazi charakterisiert. Ist der SS-Offizier und KZ-Kommandant auch ein überzeugter Antisemit? Unklar. Ein ehemaliger Häftling gibt laut Saß an, dass Haas "kein Judenfresser" gewesen sei.

Adolf Haas als Obersturmführer der Waffen-SS.

Adolf Haas als Obersturmführer der Waffen-SS.

Haas fügt sich wohl nur deshalb in die Strukturen des Nationalsozialismus, weil dieser ihm viele persönliche Vorteile einbringt. "Er war ein überzeugter Karrieremacher", so Heinrich Schönker, als Sohn des jüdischen Porträtmalers ebenfalls in Bergen-Belsen inhaftiert.

Die Täter und ihre Legitimation vor sich selbst: Sozialpsychologe Harald Welzer im Interview.

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Tödliche Lethargie

Zum Ende des Krieges verliert die Wehrmacht mehr und mehr an Boden. Die Rote Armee rückt vor, die deutschen Vernichtungslager werden geräumt. Es rollen ununterbrochen Züge aus Polen ins Reich. An Bord sind Hunderte, Tausende ausgemergelte Häftlinge aus den Lagern im Osten, die nun auf die KZ auf deutschem Boden verteilt werden.

Bergen-Belsen ist bald komplett überfüllt. Es gibt kaum Nahrung, die medizinische Versorgung bricht zusammen. Die Todeszahlen steigen ständig. Keine Gaskammern, sondern Hunger und Seuchen töten die Inhaftierten. Haas unternimmt - nichts. Ganz im Gegenteil: Als die Schikane der Gefangenen durch die Wachen zunimmt, lässt er sie gewähren.

Selbst Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz und Haas' ehemaliger Vorgesetzter, kritisiert ihn deutlich. "In Bergen-Belsen änderte er an dem gesamten baulichen Zustand, an den trüben hygienischen Verhältnissen (...) gar nichts, gab sich darum keine Mühe", sagt Höß nach dem Krieg über Haas aus.

"Vernichtung wurde von normalsten Menschen der Welt ins Werk gesetzt."

"Vernichtung wurde von normalsten Menschen der Welt ins Werk gesetzt."

Anfang Dezember 1944 wird Haas abgelöst. Josef Kramer, ehemaliger Kommandant von Auschwitz-Birkenau, übernimmt die Leitung in Bergen-Belsen. Es beginnen die letzten, die tödlichsten Monate des Lagers, das im April 1945 von den Engländern befreit wird.

Haas' Spur verliert sich überraschend schnell. Seine Ehefrau behauptet, ihn am 15. März 1945 ein letztes Mal in Hachenburg gesehen zu haben. Fünf Jahre später wird er für tot erklärt. Ist er tot? Oder überlebt er Kriegsende und Nachkriegszeit?

Belsen-Prozess - ohne Haas

In Lüneburg beginnt im September 1945, nur wenige Monate nach der Befreiung des Lagers, der Prozess gegen die verbliebene Wachmannschaft von Bergen-Belsen - an deren Spitze Kramer.

Lagerkommandant Josef Kramer wird von britischen Soldaten abgeführt.

Lagerkommandant Josef Kramer wird von britischen Soldaten abgeführt.

In Großbritannien herrscht Entsetzen nach Veröffentlichung der Bilder, die die Soldaten aus der Heide mitgebracht haben. Die Öffentlichkeit fordert, dass die Verantwortlichen schnell zur Rechenschaft gezogen werden. Am Ende des Prozesses stehen elf Todesurteile, die in Hameln vollstreckt werden.

Das Ende?

Adolf Haas muss sich nie vor einem Gericht verantworten. Er sei von befreiten Häftlingen erschlagen worden, heißt es aus seiner Verwandtschaft. Doch dann wird er im Jahr 1953 angeblich wieder in Hachenburg entdeckt. Auch weitere Augenzeugen geben an, Haas bei späteren Gelegenheiten erkannt zu haben. Trotzdem stellen die Behörden der Bundesrepublik ihre Verfahren nach und nach ein. Der Fall Haas kommt zu den Akten. Er bleibt ungelöst.

"Dann werden mehr Menschen dazu neigen, zu Massenmördern zu werden."

"Dann werden mehr Menschen dazu neigen, zu Massenmördern zu werden."

Von mehr als 170.000 Personen, die namentlich als NS-Täter beschuldigt wurden, sind in Deutschland bis zum Jahr 2005 nicht einmal 7.000 verurteilt worden, schreibt Andreas Eichmüller vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, der zu diesem Thema geforscht hat.

In Bergen-Belsen sind nach heutigen Schätzungen etwa 52.000 Menschen ums Leben gekommen.

Ein Storytelling des NDR Niedersachsen im Rahmen des Projekts #bergenbelsen75 anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers.

Redaktion: Birgit Koch (Leitung), Nils Hartung, Felix Klabe, Alexander Kröger

Recherche: Nils Hartung, Felix Klabe, Alexander Kröger, Steffen Zander

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